Hubert Audriaz: Zeichne mir die Freiheit.

30. September 1940 –

 

Aufgenommen am 29. Juni 2015 in Freiburg i. Ü.

Hubert Audriaz – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „In Paris leben hunderttausend Maler. Von denen wird alle dreissig Jahre einer berühmt.“ Als Hubert Audriaz, Kind der unteren Altstadt von Freiburg i. Ü., nach einer Bildhauerlehre in die École nationale supérieure des Beaux-Arts in Paris aufgenommen wurde und Grössen wie Salvador Dalí und Leonor Fini kennenlernte, ging ihm auf, wo sein eigentliches Talent lag. Er kehrte in die Geburtsstadt zurück und wurde Lebenskünstler. <

 

In eine Geschwisterschar von elf Kindern hineingeboren, erhielt Hubert von den Eltern nichts als einen erlesenen Vornamen. Die untere Altstadt von Freiburg i.Ü. war das Armenhaus der Schweiz. In der Familie Audriaz schlief man zu viert in einem Bett. Die Körper vermischten sich. Und auch ihre Gerüche. „Da lernte man, sich zu vertragen“, erklärt der betagte Mann. „Der erste, der sich niederlegte, tischte seine Sachen noch ordentlich hin. Aber schon mit dem zweiten entstand Unordnung, und vom dritten an war das Durcheinander perfekt. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Energie es am Morgen brauchte, seine Socken und Hosen zu finden! Dafür waren wir hellwach, wenn wir in die Schule kamen.“ Frühstück hatte niemand gehabt. Die Kinder vermissten es nicht. Sie kannten nichts anderes.

 

Der Vater war starb. Die Mutter sah ihre Lebensaufgabe darin, die Familie durchzubringen, ohne dass eines ins Waisenhaus musste. Aber oftmals ging es karg zu. Ein paarmal wandte die Mutter den Geldbeutel mutlos um, dann schickte sie Hubert zum Vikar: Ob er ihr nicht ein paar Brotgutscheine schenken könne. Der harte Mann entgegnete, zuerst müsse er in der Messe nicht nur drei oder vier, sondern elf Mitglieder der Familie Audriaz erblicken. Aus Mitleid wagte Hubert nicht, der Mutter diesen Bescheid zu eröffnen. Stattdessen sagte er: „Ich habe den Vikar nicht angetroffen.“

 

Die Diener des Herrn besuchten die Leute in der unteren Altstadt nie, erklärt Hubert Audriaz. Die Verhältnisse machten ihnen Angst. Sie liessen sich lieber von den bürgerlichen Familien zum Essen einladen. Die arme Jugend aber bekam alles mit: „Wir waren neugierig wie die jungen Füchse. Wir hatten ja sonst keine Ablenkung. Darum waren wir immer auf der Strasse. Nur zum Schlafen gingen wir nach Hause.“ Die arme Jugend bekam mit, dass ihr nichts geschenkt werde: „Wir lernten, dass wir strebsamer, tüchtiger und ehrlicher sein mussten als die andern.“

 

Wie gern hätte Hubert die Zuwendung der Mutter erlebt! Aber sie blieb aus Gerechtigkeitsgründen den Kindern gegenüber fern: „Wenn ich jemanden von euch in den Arm nehme, mache ich einen glücklich und zehn traurig.“ Dafür schenkte sie jedem Kind, sobald es in die Schule kam, eine Schachtel. Es musste sie bis zum Übertritt in die Sekundarschule (collège) aufbewahren. Dann erst durfte es sie öffnen.

 

Hubert hielt sich nicht ans Verbot und entdeckte, dass die Schachtel leer war. Beim Übertritt auf die höhere Schulstufe war das Geschenk verlegt. „Hast du es geöffnet?“ „Nein, sicher nicht.“ „Dann such’s!“ Hubert brachte es herbei. Noch immer fand er nichts darin. „Wirklich nicht?“ „Nein.“ „Aber die Schachtel enthält doch Blau! Schau: Jetzt ist das Blau in die Welt geflogen! Von nun an wirst du jedesmal, wenn du es erblicken wirst, an mich denken.“ Sie hatte recht. Der 74-jährige Mann hat die Mutter nie vergessen: „Ich denke jeden Tag an sie.“

 

Auch die Kindheit ist ihm nahe geblieben. Mit 38 begann er, sich für den Freiburger Ferienpass mit der Jugend zu beschäftigen. „Gerade habe ich sie ans Ufer der Saane geführt. Da lag viel, viel Holz. Ich gab jedem einen Hammer und Nägel: ‚Ihr habt zwei Stunden Zeit, um zusammen ein Schiff zu bauen, das schwimmt.‘ Sie hätten sehen sollen, wie sie sich in die Aufgabe geworfen haben! Junge Menschen geben sich immer ganz hin. Erst später werden sie vorsichtig und erstarren.“

 

Als Bundesrat Alain Berset mit einer Gruppe von Politikern Hubert Audriaz in der unteren Freiburger Altstadt besuchte und fragte, was er ihnen mitzuteilen habe, erwiderte er: „Die Welt sähe besser aus, wenn wir wieder Kinder wären. Es ist schlimm, dass denen, die Krieg befehlen, nichts geschieht. Die Kleinen leiden. Sie zahlen mit dem Leben, nicht die Grossen. Das sollten wir ändern.“

 

Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wer ist doch der Grösste im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es unter sie und sprach: Wahrlich ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Grösste im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber Ärgernis gibt einem dieser Kleinen, die an mich glauben, dem wäre besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist. Sehet zu, dass ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel. (Matth. 18, 1 ff.) 

 

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