Jean Martin: Arzt des öffentlichen Gesundheitswesens. „Ich liebe diese Welt, man muss sie ändern.“

18. November 1940 –

 

Aufgenommen am 9. Mai 2023 in Echandens.

Jean Martin – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Der 82-jährige ehemalige Waadtländer Kantonsarzt Jean Martin ist im selben Dorf zu finden, in dem er als Winzerssohn aufgewachsen ist. Sonntags geht er in derselben Kirche zur Predigt, in der schon sein Vater und sein Grossvater das Wort Gottes vernommen haben. Nach der Pensionierung politisierte er als Vertreter der „radikalen Mitte“ (wie er sagt) eine Legislatur lang im Grossen Rat des Kantons Waadt. Heute jedoch zählt er zu den Klimagrosseltern und legt sich zusammen mit den jungen Menschen von Extinction Rebellion auf den Asphalt. <

 

Vor zehn Jahren begann das Klima, Jean Martin zu beschäftigen. Vorher, als er als Kantonsarzt geamtet hatte, war es noch kein Thema gewesen. Logisch: „Die Karriere gleicht einem Tunnel“, erklärte der Berner Professor Roland Donzé, nachdem er als Romanschriftsteller mit 65 an die Öffentlichkeit getreten war. „Sie streben im Finstern vorwärts, und für die wirklichen Fragen fehlen der weite Horizont und die Musse. Darum sind Jugend und Alter die wahrhaft philosophischen Lebensabschnitte, nicht das Arbeitsleben.“

 

Heute sieht Jean Martin, dass das Recht der Lage hintennachhinkt. „Whistle­blower müssten geschützt werden!“, ruft er während der Aufnahme für die „Plans Fixes“. „Sie sind es, die Alarm schlagen!“ Denkste. Nach Erscheinen des Films hat das Parlament den Vorstoss versenkt. Jean Martin findet auch, die Klimakatastrophe habe eine Notlage geschaffen, die einen sofortigen Wandel von Politik und Recht erfordere. Denkste. Der ehemalige Waadt­länder Kantonsarzt formuliert die Diagnose: „Das neoliberale System führt uns ins Chaos!“

 

2011, zehn Jahre bevor sich Jean Martin vom Naturfreund zum Umwelt­aktivisten entwickelte und zusammen mit dem Nobelpreisträger > Jacques Dubochet die Klimajugend unterstützte, veröffentlichte der emeritierte Berner Medizinprofessor Hans Koblet unter dem Titel „In der Sackgasse eines Denkzeitalters“ seine Überlegungen:

 

Nach meiner Ansicht äussert sich eine verfehlte Denkweise im Jugendkult und in einseitiger Körperbetontheit (Sport, Mode, „Schönheit“), in rein materiellen Glücksvorstellungen, in absoluter Vorherrschaft von Ökonomie und Wissenschaft, im verbogenen Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, in mangelnder Religiosität und Poesie, im Fehlen der Barmherzigkeit gegenüber der Schöpfung. Folgen sind die Verarmung und Verwüstung unseres Planeten, die Zerstörung der Regenwälder und der Weltmeere, die Verluste an Biodiversität, die Krisen im Bereich von Ernährung, Wasser und natürlichen Ressourcen. Das sind die Schuldenberge gegenüber der Natur. Deshalb denke ich, dass die gegenwärtige wirtschaftliche Krise nur Symptom und Vorläufer einer umfassenden Krise gegen Ende eines Denkzeitalters darstellt, das von einem neuen Denkzeitalter abgelöst werden muss. Die Krise könnte demnach auch eine Chance sein. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass dieses Umdenken wohlüberlegt und freiwillig geschehen wird.

 

Der Mensch sucht den Status quo so lange als möglich aufrecht zu erhalten. Neues Denken wird erzwungen werden durch die normative Kraft des Faktischen. Es handelt sich längst nicht mehr um eine Auseinandersetzung zwischen Kultur und Natur, sondern vielmehr zwischen Natur und Unkultur.

 

Ich schreibe diesen Bericht mit wachsender Angst und mit Herzblut, gleichsam als Vermächtnis, droht doch ein wundersames Lebensgefüge zerstört zu werden.

 

Im Gegensatz zu Hans Koblet, Jacques Dubochet und Jean Martin ist Roland Donzé nie geflogen; er hat auch keinen Führerschein gemacht und kein Auto besessen. Dagegen war er schon ein Grüner und unterstützte mit namhaften Beiträgen den WWF, als der Dichter Vaclav Havel, Oppositioneller und Staatsgefangener der Tschechoslowakei, Anfang der 1980er Jahre in einem Interview verlangte: „Man müsste eine Partei ins Leben rufen, die den Schutz der Umwelt zum Ziel hat. Ich wäre der erste, der ihr beitreten würde.“ Die rasante Verwandlung der Schweiz (Rolf Keller: Bauen als Umweltzerstörung. Alarmbilder einer Un-Architektur der Gegenwart, 1973) erfasste Donzé 1975 mit der Formel: „La bagnole a tout foutu en l’air. [Die Karre hat alles kaputt gemacht.] Aber das dürfen Sie gegenüber den Kollegen nicht aussprechen. Sonst gelten Sie als Spinner.“

 

Jean Martin gestattete sich damals noch Flüge zu den touristischen Sehenswürdig­keiten: „Das Kap Finisterre und die andern Orte, wo die Erde aufhört, haben mich immer interessiert.“ Heute würde er sich überlegen, ob nicht ein Verzicht angemessener wäre. – Ein anders Kapitel sind die beruflichen Flüge. Sie führten den jungen Arzt nach Südamerika, die Vereinigten Staaten, Indien und Afrika.

 

Begleitet von seiner Frau Laurence wirkte er zuerst zwei Jahre als Urwalddoktor in Kolumbien: „Es war die Zeit, wo man anfing, den Menschen ausserhalb Europas helfen zu wollen.“ Einmal am Ort, ging ihm auf, dass ist nicht genügte, die Kranken zu heilen: „Wir machten zwar die Patienten gesund, doch nach drei Monaten kamen sie wieder zurück.“ Um zu verstehen, wie man vorgehen müsse, damit sich die Lebensumstände einer Bevölkerung verbessern, schrieb sich Jean Martin in den USA ein und machte einen Master in öffentlichem Gesundheitswesen. Mit dieser Zusatzqualifikation wirkte er anschliessend als Delegierter der WHO in Kalkutta und im Kamerun und nahm dort die Strukturen ins Visier. „Einzelne Menschen habe ich nicht mehr behandelt, nur noch ab und zu einen Angestellten.“

 

Nach acht Jahren stellte die Ehefrau Laurence fest: „Jetzt sind wir viermal von einem Kontinent auf den anderen gezogen. Am nächsten Ort bleiben wir mindestens fünf Jahre. Oder wir kehren nach Hause zurück.“ Den Entscheid für das heimatliche Echandens bestimmten die Krankheit des Vaters und die bevorstehende Schulpflicht der Kinder. Ausserdem winkte eine Stelle im kantonsärztlichen Dienst. Dort stieg Jean Martin nach acht Jahren zum Vorsteher auf und wirkte auf diesem Posten 17 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung. Heute ist er aus dem finsteren Tunnel der Karriere entlassen und im „neuen Denkzeitalter“ angekommen.

 

Wie es sich gestaltet, hat Hans Koblet entworfen:

 

Die echten Wunder sind hier auf Erden. Unser Wissen und unsere Erfahrung dienen nicht der Ausbeutung, sondern der Bewunderung. Kosmos und Leben sind ganzheitlich. Liebe äussert sich nicht im Sozialstaat; sie äussert sich in der umfassenden Barmherzigkeit mit allem Sein. Kein Friede unter den Menschen ohne Frieden mit der ganzen Schöpfung.

 

April 2011

 

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