Charles Bourgeois: Korrektor.

5. Januar 1945 – 17. April 2016.

 

Aufgenommen am 25. Oktober 1988 in Le Mont-sur-Lausanne.

Charles Bourgeois – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Charles Bourgeois hat sein ganzes Leben ohne Sex verbracht. Eine zere­brale Lähmung, eingetreten beim Geburtsvorgang durch Sauerstoffmangel im Gehirn, verwehrt dem Invaliden den Gebrauch seines Geschlechtsorgans. „Ich habe andere Wege, um Zuneigung auszudrücken“, erklärt er. „Was die Frauen angeht, bin ich wie ein Gärtner, der durch die Beete schweift und die Blumen bewundert, ohne sie anzufassen.“ <

 

„Am Anfang war es Trotz.“ Charles Bourgeois lacht. Von frühester Kindheit an lehnte er alle Pflegemassnahmen ab. Sie kamen ihm vermutlich zu nah und strahlten Respektlosigkeit aus. Jedenfalls war für ihn Physiotherapie der reine Horror. Die Übungen führten immer wieder zu Erschöpfung, und bald spürte er, dass er sich entscheiden müsse; die Kräfte reichten nicht für beides: die Entwicklung des Körpers und die Entwicklung des Geists.

 

Charles Bourgeois erkannte instinktiv, dass es der Geist war, der Wert in sein Leben brachte: „Was nützt es mir, wenn ich mich ohne Rollstuhl bewege, dafür aber dumm bleibe und keinen Beruf erlerne?“ Er setzte durch, dass er in die Volksschule aufgenommen werde. Er war schon etwas spät dran. Erst mit sieben kam er in den Kindergarten. Aber das Schöne war: „Für die Kleinen war meine Behinderung kein Problem.“

 

Charles interessierte sich nicht für die Spiele, sondern für die Sprache. In zehn Tagen brachte er sich die Buchstaben bei. – Welch entscheidende Rolle das Lesen für die Entwicklung von Intellekt und Empathie spielt, hat die Wissenschaft heute nachgewiesen. Der Junge fühlte es von innen her. Das gedruckte Wort übte auf ihn einen derartigen Sog aus, dass er aus dem Umgang mit der Sprache später seinen Beruf machte.

 

Für ihn bedeutete das Buch Trost, Kamerad­schaft, Welterfahrung. Die Empfänglichkeit für die Ansprache der Literatur brachte ihn in die Familie der Leseratten (les liseurs). An ihrem 90. Geburtstag formulierte Anne, Witwe des Schriftstellers Roland Donzé, eine Mitbewohnerin dieser Sphäre, im August 2014: „Wer alt ist, wird einsam. Freunde und Bekannte sterben weg. Aber solange man noch lesen kann, hat man Gesellschaft. Die Stube ist gefüllt mit Menschen, die zu uns reden und deren Wesen uns berührt.“

 

Die Eltern von Charles Bourgeois und seine Umgebung mussten lernen, einen Weg zu akzeptieren, der den Heranwachsenden auf Kosten des Körpers zum Geist führte. Sie sahen ja, dass er nach dem Besuch der Schule zu erschöpft war, um noch physiotherapeutische Sitzungen zu absolvieren. Und die körperlichen Übungen wiederum machten ihn krank. So setzte der Junge sein Begehren durch.

 

Von den Lehrern verlangte er nicht Schonung, sondern Förderung. Zunächst von den Frauen des Kindergartens und des ersten Schuljahrs: „Sie waren sehr tüchtig (très efficaces) und von verhaltener Mütterlichkeit (vaguement maternelles), aber das mag ich (j'aime ça, quoi).“ In der zweiten Klasse kam er zu Marcel Sénechaud, einem Mann der Feder („Le répertoire lyrique d’hier et d'aujourd’hui“), der seinen Schüler zum Schreiben ermunterte; dann zu Monsieur Musy und später zu Monsieur Vivian, der ihm in die Sekundarschule half. Auf dieser Stufe brachte der unnachgiebige Lehrer Georges Annen den Jungen an den Rand der Verzweiflung. Nach zweieinhalb Jahren stand er vor dem Zusammenbruch. Die Not gab ihm den Mut zu fragen: „Was haben Sie gegen mich?“ Der Lehrer beruhigte ihn, und Charles sah ein: „Er hatte nichts gegen mich. Er war bloss anspruchsvoll. Das letzte halbe Jahr wurde wunderbar.“ – Der prägende Einfluss der Lehrer zeigt sich daran, dass jede zweite Persönlichkeit, welche in den „Plans Fixes“ aufs Leben zurückblickt, die Namen ihrer Pädagogen mit Dankbarkeit vorbringt.

 

Nach dem Schulabschluss bildete sich Charles durch Fernunterricht für den Beruf seines Lebens aus und absolvierte den Lehrgang zum Korrektor. Seitdem bekommt er das Pensum von einer grossen Lausanner Druckerei nach Hause geliefert und bemüht sich nach Kräften, eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden einzuhalten.

 

Charles Bourgeois ist dankbar für die Erfindung der elektrischen Schreibmaschine. Jetzt braucht er viel weniger Kraft, um die Tasten zu betätigen – im Einfingersystem. Der linke Arm ist nämlich nicht zu brauchen. Fürs Korrigieren gibt es neuerdings ein Korrekturband. Es genügt, den falschen Buchstaben anzutippen, und schon ist er verschwunden. Der introvertierte Mann des Wortes hält die Verbindung zu den anderen Menschen mit den Mitteln von Brief und Telefon aufrecht. Er sagt, ohne Freundschaft könne er nicht leben.

 

Die Situation, die der Film aus dem Jahr 1988 festhält, gehört zu einer untergegangenen und in manchem Betracht überholten Welt. Eisenbahnzüge und Strassenbahnen sind heute sowohl kinderwagen- wie rollstuhlgängig. (Zum Zeitpunkt der Filmaufnahme: null.) Dafür gingen mit dem Aussterben von Print die meisten Druckereien ein.

 

Die Arbeit des Korrektors wird heute von Pro­grammen versehen, die den Stil mitbewerten und Verbesserungsvorschläge machen. Siri ersetzt das Tippen. Diktieren ist das neue Verfassen. Doch die erdrückende Mehrzahl der Menschen unter 45 Jahren liest keine Bücher und Zeitungen mehr, auch nicht in elektronischer Form.

 

„Einszweidrei, im Sauseschritt, / Läuft die Zeit; wir laufen mit.“ Wilhelm Busch formulierte diese Verse 1877 noch mit Tinte und Feder und legte sie auf Papier nieder. Tempi passati. Morgen wird KI für den „Dialog mit Abwesen­den“ Essays hervorbringen, denen keiner anmerken wird, dass ihr derzeitiger Verfasser das Diesseits schon leise verlassen hat.

 

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