Daniel Marguerat: Der in die Schrift verliebte Theologe.

30. Oktober 1943 –

 

Aufgenommen am 16. Oktober 2012 in Ecublens.

Daniel Marguerat – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Der Neutestamentler ohne Unterleib. Oft unterbrochen durch die unsensiblen Interventionen der Journalistin, deuten Daniel Marguerats Ausführungen lediglich als gestrichelte Linie auf den Werdegang vom Gymnasiasten zum Studenten und vom Pfarrer zum Professor. Der Zuschauer vernimmt nichts über die familiäre Herkunft, nichts über die Frau an seiner Seite (falls sie existiert), nichts über allfällige Kinder und Grosskinder. Im Porträt der „Plans Fixes“ ist nur die Rede von Gott, dem Neuen Testament und der Wissenschaft seiner Auslegung. <

 

Die Störungen sind zahlreich. Sie gehen zurück auf die Déformation professionnelle der Journalistin Manuela Salvi. In der Westschweiz ist sie bekannt als Leiterin der Mittags­sendung von Radio Suisse Romande. In dieser Funktion wurde sie vom Druck geprägt, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Inhalte „hinüberzubringen“, wie die Radioleute sagen. Die „Contents“ stehen für komplexe Sachverhalte, sind aber, angesichts der knapp bemessenen Sendedauer, reduziert auf blosse Stichwörter. Die Radiofrau wirft sie ein, um Aussagen, die ihr weitschweifig oder unverständlich vorkommen, „auf den Punkt zu bringen“. Bei den Politikern, die sich gern hinter unverbindlichen Floskeln verbergen, bietet die Zuspitzung oft einen Gewinn an Klarheit und Eindeutigkeit. Doch bei einem so feinen Geist wie Daniel Marguerat, dem emeritierten Professor für Neues Testament an der Universität Lausanne, bedeutet die Reduktion auf „Kernaussagen“ eine Verfäl­schung des Gedankens infolge simplifizierender, und damit irreführender, Approximation.

 

Der Zeitdruck, der Manuela Salvis Interviewverhalten geprägt hat, führt sie zu überhastetem Denken. Sie versucht zu antizipieren, worauf der Gesprächs­partner hinauswill, und formuliert an seiner Statt die Pointe. Damit glaubt sie, den Weg der Ausführungen abzukürzen und Zeit zu gewinnen für einen neuen „Aspekt“ (in der Regel bloss ein weiteres Stichwort). Weil sie nun aber, getrieben von einem sogenannten „professionellen Gewissen“, beim Hören vorausdenkt, während der Gesprächspartner seine Gedanken erst schritt­weise entfaltet, hält sie die Ungeduld vom Aufnehmen des Gesagten ab. So zieht Manuela Salvi laufend falsche Schlüsse, und ihre Interventionen verhin­dern, dass der Gesprächspartner zu jenem Punkt kommt, der der seine ist und nicht der allgemeine. Anderseits kommt die Journalistin durch die Befragung lediglich zu Inhalten, die sie schon kennt, während die Befragungen durch Kommissar Maigret stets Neues, Über­raschendes, Eigentümliches hervorbringen. Welcher Gesprächsstil den abgefilmten Persönlichkeiten der „Plans Fixes“ angemessener sei, bedarf keiner Untersuchung.

 

– Was denken Sie über den Fall, Herr Kommissar?

– Ich denke nichts.

– Haben Sie schon einen Verdacht?

– Ich habe keinen Verdacht.

­– Aber mit Ihrer Methode …

– Ich habe keine Methode.

 

Jetzt erlebt der Zuschauer die Frustration, dass Daniel Marguerat seine Gedanken laufend auf halbem Weg verlassen muss. Der 69-Jährige erzählt, dass er erst vor der Konfirmation die Bibel zur Hand nahm. Er sollte die wichtigen Sätze unterstreichen und auswendiglernen. Der Kamera sagt er, wie öd ihm damals das Evangelium vorkam. „Nie hätte ich geglaubt, dass dann dieses Buch fünfzig Jahre hindurch auf meinem Pult liegen würde und dass ich es täglich aufschlagen würde!“

 

Die Wahl des Studienfachs ergab sich im Ausschluss­verfahren. Er wollte etwas lernen, das den Menschen zugut komme, und wog ab zwischen Lehrer, Arzt oder Pfarrer. „Der Arzt kümmert sich um den Körper, und der Pfarrer …“ beginnt Daniel Marguerat, „… um die Seele!“, wirft Manuela Salvi ein. „… um die Person und ihre ganze Existenz“, verbessert der Theologe. Aber die Journalistin hat ihn nicht vernommen und spricht weiter von der Seele, ohne zu merken, dass der Begriff im wissenschaftlichen Kontext mit Vorsicht zu verwenden sei. Daran zeigt sich Manuela Salvis Déformation professionnelle: Halbbildung und vor­schnel­le Schlüsse.

 

Die Moderatorin sieht ihre Rolle nicht im bescheidenen Hören und Aufneh­men, sondern im Führen und Strukturieren des Gesprächs. So hat sie es fürs Radio gelernt. Auf ihrem Blatt stehen die Punkte, die sie sich abzuarbeiten vorgenommen hat, und demzufolge sind die Aussagen, die sie vom Partner erwartet, zum voraus definiert. Damit gleicht das Gespräch nicht der Begegnung zweier Menschen, sondern einer Prüfung. Hier weiss der Exterminator mehr als der Kandidat. Diesen Anschein versucht sich die Journalistin ebenfalls zu geben – wiewohl das Verhältnis in Wirklichkeit umgekehrt ist: Der Befragte weiss alles über sein Gebiet, er ist kompetent; die Befragerin aber weiss nichts, sie ist inkompetent.

 

Die Examinatorenposition, die Manuela Salvi einnimmt, entspricht folglich, streng betrachtet, hohler Anmassung. Zum Vorschein kommt die Anmassung, wenn die Journalistin den Professor nicht einfach nach seiner Tätigkeit fragt, sondern an seiner Statt sein Berufsfeld beschreibt: „Ihre Spezialität ist das genaue Lesen, das heisst die Analyse jedes Kommas.“ Hoppla. Journalisten haben gelernt, Kompetenz vorzuspielen. Darum kleiden sie ihre Fragen gern in Aussageform. Fragen wäre in ihren Augen ein Zeichen von Ignoranz. Deshalb ziehen sie es vor zu behaupten, anstatt zu fragen. Doch mit dieser Haltung bringen sie sich und die Hörer um die Überraschung, etwas Neuem, Unbekanntem zu begegnen. Das passiert hingegen Maigret; und darum sind seine Dialoge spannend:

 

Das Komma, das bei der Exegese angeblich eine Rolle spielt, existiert im griechischen Urtext des Neuen Testaments nicht. Es kam erst später dazu, erklärt Daniel Marguerat freundlich. Doch Manuela Salvis Kopf nimmt die neue Tatsache nicht auf, und unbelehrt verwendet sie das Wort weiter. So wird der Film, in dem der Theologe das genaue Lesen, Hören, und Verstehen thematisiert, im gleichen Zug auch zum Musterbeispiel fürs Aneinander­vorbeireden und Missverstehen aus Voreingenommenheit und mangelnder Bescheidenheit. Lerne!

 

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