7. August 1933 –
Aufgenommen am 22. Februar 2003 in Neuenburg.
Pierre Centlivres – Association Films Plans-Fixes
> Als die „Plans Fixes“ im Jahr 2003 das Filmporträt Pierre Centlivres veröffentlichten, ernannte die französische Republik den Siebzigjährigen zum Ritter der Ehrenlegion. 2007, zwei Jahre darauf, wurde ihm und seiner Frau Micheline Centlivres-Demont für das Buch „Revoir Kaboul“ der Asien-Preis der Vereinigung der französischsprachigen Schriftsteller zugesprochen. Heute, im Jahr 2025, wird Pierre Centlivres 92. Er hat 21 Bücher geschrieben; davon acht gemeinsam mit Micheline, die heuer 95 wird. <
Als ich an einem milden Abend im Berner Kirchenfeldquartier mit dem Velo unterwegs war, fiel mir ein ungleiches Paar ins Auge: Eine lange Gestalt mit schwarzem Hut unterhielt sich wohlgelaunt und gestikulierend mit einer kleinen Person. Beim Näherfahren erkannte ich Roland Donzé, den emeritierten Professor, und seine Frau Anne. „Wie schön müssen sie es haben“, dachte ich unwillkürlich, „sich nach all den Jahren noch so viel erzählen zu können!“
Dasselbe Glück widerfährt heute Pierre und Micheline Centlivres-Demont. Die 95-Jährige erklärt:
Mein Mann und ich bilden eine echte Gemeinschaft. Wir sprechen jeden Tag zu verschiedenen Tageszeiten miteinander. Wir reden über das, was wir in der Zeitung gelesen haben, über Politik, über Menschen, die wir getroffen haben, über einen Film, den wir gesehen haben, über Geschichten, die wir gehört haben; wir tauschen Erinnerungen aus, lesen Texte, insbesondere die Aufsätze, die der andere schreibt.
Pierre, der frühere Ordinarius für Ethnologie der Universität Neuenburg, trägt immer Stift und Papier bei sich:
Schreiben, das tue ich schon mein ganzes Leben lang, und es bleibt für mich eine Notwendigkeit. Ich muss mit der Hand schreiben, um die Realität der Dinge richtig erfassen, wahrnehmen, erkennen und beurteilen zu können. Seit einiger Zeit schreibe ich ein „Dialysetagebuch“.
Mit dem Schreiben bleibt Pierre Centlivres, was er ein Leben lang war und was sich für einen Ethnologen schickt ... ein „teilnehmender Beobachter“. Jetzt auch seiner selbst:
Ich habe einige gesundheitliche Probleme; ich leide an einer Nierenerkrankung und muss mich zweimal pro Woche einer Dialyse unterziehen, vielleicht nächstens dreimal. Jedes Mal muss ich für eine vierstündige Sitzung ins Spital. Das ist ein Handicap für einen Fernurlaub. Andererseits – vielleicht sind meine Gesprächspartner anderer Meinung – habe ich das Gefühl, dass mein Hirn einigermassen funktioniert, natürlich mit Vergesslichkeiten.
Letzten Herbst brachte Pierre Centlivres ein weiteres Buch heraus: „Schnipsel und Spuren. Das Vergängliche im Alltag.“ (Bribes et traces. L'éphémère au quotidien.)
Was erfährt man über die Welt durch ein Schlüsselloch, durch das Gitter einer Burka oder durch eine zufällige Begegnung? Vielleicht das Fragment einer Existenz. Solche Fragmente können Postkarten, Festtagsmenüs, handschriftliche Notizen am Rand eines Buches bilden. Sie können uns auf den Weg zu einem Stück Leben führen, eine Öffnung zu einem anderen Ort geben. Sie erlauben uns Zugang zum Verständnis von Lebensläufen, die sich von den unsern unterscheiden, und ihre Untersuchung bildet eine Gelegenheit für Ausflüge in ein Gebiet jenseits unserer ausgetretenen Wege. Auf diese Weise schafft das, was ausserhalb des Programms liegt, Sinn, zugleich unerwartet und wesentlich.
Die Welt durchs Schlüsselloch, die Welt durchs Gitter einer Burka – dieser Metapher entspricht der Zugang des Ethnologen zur Wirklichkeit. Zu den Schwerpunkten der wissenschaftlichen Tätigkeit von Pierre und Micheline Centlivres-Demont gehörte das Leben der Afghanen.
Pierre kam 1964 für zwei Jahre nach Kabul, um beim Aufbau des Nationalmuseums mitzuwirken. Dort lernte er Micheline kennen. Sie war der Hitze ausgewichen, die sie während der Sommermonate in Teheran an der Arbeit für ihre Dissertation lähmte. 1971 promovierte sie dann mit der Darstellung einer iranischen Töpfergemeinschaft (Une communauté de potiers en Iran: Le Centre de Meybod, Yazd). Pierre selber reichte 1972 seine ethnologische Doktorarbeit über den Basar von Tâshqurghân ein (Un bazar d'Asie centrale. Forme et organisation du bazar de Tâshqurghân).
Inzwischen hat sich vieles angesammelt. Die Wohnung des hochbetagten Paars ist voller Bücher. Man sieht ihre Rücken und schweift mit flüchtigem Blick über den einen oder anderen Titel. Doch zum Eindringen in den Gehalt reicht die kurzbemessene Zeit nicht.
Auch das Porträt der „Plans Fixes“ gleitet nur über die Namen: > Jacques Mercanton, Pierres Literaturprofessor an der Universität Lausanne (zu Montaigne und Rousseau), > Jacques Chessex, der Kommilitone, Jean Gabus, der Doktorvater, Claude Lévy-Strauss und Jacques Lacan, die methodischen Vorbilder. Und wie viel wäre über Afghanistan zu reden, den Staat, seine Zustände, seine Geflüchteten! Wie viel erst über die Ergebnisse von Pierres Untersuchungen! Im Film aber bleibt es bei Andeutungen. Pierre Centlivres und sein Gesprächspartner Raphaël Aubert sind verwiesen auf das System des falschen Vertrauens zum Leser.
Der Ausdruck findet sich in Sartres Tagebuch vom 20. November 1939:
Ich versuche, mit Höflichkeit kurz und bündig zu sein. Ausserdem spiele ich das für die Nouvelle Revue Française so typische Spiel des „falschen Vertrauens zum Leser“. Darunter verstehe ich: Ich bin davon überzeugt, dass [Redaktor Jean] Paulhan auf den ersten Blick nicht verstehen kann, warum ich den Krieg mit Brunschvicgs Philosophie vergleiche. Es bedürfte einiger erklärender Worte. Aber eben die schreibe ich nicht. Ich schenke ihm falsches Vertrauen, in der Überzeugung, dass er etwas verstehen wird, irgend etwas – denn es ist ausgemacht, dass man bei der Nouvelle Revue Française immer etwas versteht –, und dass er sogar mehrere miteinander unvereinbare Erklärungen gleichzeitig annehmen wird. Und diese Interpretationen, die ich ahne, ohne sie zu kennen, verleihen meinem Satz, während ich ihn schreibe, eine ergötzliche Tiefe und Fremdartigkeit in meinen eigenen Augen. Man verallgemeinere das System des falschen Vertrauens, dehne es auf alle möglichen Leser aus, und man hat das Verfahren zur Herstellung der kritischen Notizen, die in den Nouvelle Revue Française stehen.
So ist es. Die Welt durchs Schlüsselloch. Die Welt durchs Gitter einer Burka. Schnipsel und Spuren. Das Vergängliche im Alltag.
Micheline Centlivres-Demont:
Heute ist es so, dass diese Welt komplexer geworden ist, überall geht es drunter und drüber. Wenn ich die Zeitungen lese, werde ich aus dem Gleichgewicht geworfen. Vor allem, weil wir nichts tun können. Wir sind da, wir lesen die schlechten Nachrichten, sei es aus der Ukraine, sei es aus Gaza ... In dieser Welt fühle ich mich unwohl.
Pierre Centlivres:
Wir haben mit den Menschen unseres Alters die bittere Genugtuung, einander sagen zu können, dass diese Welt vor die Hunde geht.