6. Mai 1939 – 6. April 2009.
Aufgenommen am 23. August 2005 in Montreux.
Bernard Blatter – Association Films Plans-Fixes
> Na ja. Der pensionierte Direktor eines kleineren Museums. Hat nich’ mal Kunstgeschichte studiert. Geschweige denn Kulturmanagement ... Doch wenn Bernard Blatter zu reden beginnt, nimmt er die Zuhörer mit auf einen Trip. „Wie ein Luftballon hebt er uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen und lässt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen.“ (Goethe.) <
Der Zahnarztssohn wuchs in Montreux am Genfersee auf. In Lausanne kam er an die kantonale Kunstgewerbeschule. In Paris an die Ecole Boulle. Hier absolvierte er den Studiengang „architecte intérieur“. Der Beruf geht auf die klassische französische Baukunst zurück. Der Architekt zeichnet für die Gebäudehülle, und der „architecte intérieur“ nimmt Anordnung, Funktion und Ausstattung der Innenräume vor.
Zurück in Montreux, fand Bernard Blatter an der Waadtländer Riviera fürs Aménagement historischer Landsitze, Villen und Palacehotels ein reiches Arbeitsfeld. Bei den Auftraggebern muss er sich durch seine Persönlichkeit in Achtung gesetzt haben. Denn mit 43 Jahren wurde er von den Behörden der Stadt Vevey eingeladen, die Direktion des Muséé Jenisch zu übernehmen.
Das Haus war 1897 mit dem Legat einer Hamburger Senatorenwitwe zur Eröffnung gekommen. Fanny Jenisch (1801–1881) hatte aus Dankbarkeit für die glückliche Zeit, die sie mit ihrem Mann am Genfersee hatte erleben dürfen, die Stadt Vevey testamentarisch bedacht. Und in diesem „Muséé Jenisch“ hat sich Bernard Blatter mit der vielbeachteten Ausstellung „Les peintres du silence“ (Die Maler der Stille) für die Leitung des heute zweitgrössten Kunstmuseums des Kantons Waadt qualifiziert.
Wenige Monate nach Ablauf seines Mandats und dreieinhalb Jahre vor dem Tod spricht der 65-Jährige über den Genfersee, die Kunst, die Musik, die Maler und die Dichter, und dabei treten drei bemerkenswerte Qualitäten ans Licht:
1. Gegenwart. Was immer Bernard Blatter mit seiner Rede herbeiruft, gleich ist es da. Und zwar nicht nur anschaulich, fassbar, konkret, sondern eben auch: „präsent“. Der Eindruck rührt daher, dass das Objekt der Erkenntnis für den Freund der Künste zum Vertrauten geworden ist. Es hat seine Fremdheit abgelegt, ist in sein Inneres gezogen und lebt dort.
Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf, nur von dem reden, was man überwunden hat – alles andere ist Geschwätz, „Literatur“, Mangel an Zucht.
2. Bezogenheit. Bernard Blatter steht in einem persönlichen Verhältnis zu den Menschen und Dingen. In dieser Beziehung gleicht der frühere Museumsdirektor einem Dichter:
Der Dichter ist der Vollbringer eines kleinen und gewagten Vorstosses, ein exaltierter und unbesonnener Pionier, dessen Mission die Pioniersmission ist: verschlungen zu werden von der nachdrängenden Bewegung, der er ohne genügende Mittel, mit nichts gerüstet als mit einem vagen Glauben an kommende Möglichkeiten, vorausgeeilt ist, voraus: auf Wegen, die er selbst nicht kennt. Denn alle Dichter sind solche vereinzelte Emissäre in fremde und unsichere Gebiete. Sie haben das schwierigste und gefährlichste Geschäft übernommen, das es gibt: die Aufklärung.
3. Eigenständigkeit. Bernard Blatter verwendet seine eigene Sprache. Er benützt keine Floskeln, keine Fachbegriffe, keine Modewörter. Manchmal möchte man meinen, man höre Proust reden. – Kein Wunder, ist Blatter befreundet mit Yves Bonnefoy (einem der schwierigsten französischen Lyriker des 20. Jahrhunderts) und der Westschweizer Lyrikerin > Anne Perrier (die als erste Frau 2012 den „Grand Prix national de poésie“ des französischen Kulturministeriums erhielt). Wenn Blatters Hände zum Gleitflug ansetzen, um zu dem zu segeln, was hinter den Erscheinungen liegt, gleicht er einem Künstler:
Jeder Künstler ist ein höchst ausgeprägtes Ich, eine singuläre Apperzeptionsform. Er sieht die Dinge so, wie sie niemand sieht. Aber diese seine Gesichte sind keine Halluzinationen und Sinnestäuschungen, sondern bisher unentdeckte Wirklichkeiten. Seine Beobachtungen sind subjektive Wahrheiten: subjektiv, weil sie von einem vereinzelten Individuum ausgehen, und Wahrheiten, weil sie sich auf Realitäten beziehen.
Durch den Umgang mit der Kunst, den Künstlern, den Dichtern, den Wellen des Genfersees, den Silhouetten der Savoyer Alpen und dem beweglichen Licht des Himmels wurde Bernard Blatter eingebunden in das grosse Kontinuum von Schöpfung, Zeit und Ewigkeit, und davon zeugt er in den „Plans Fixes“ wenige Monate nach dem Ablauf seines Mandats und dreieinhalb Jahre vor dem Tod. „Wie ein Luftballon hebt er uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen und lässt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen.“ Damit gleicht der pensionierte Direktor eines kleineren Museums an der Waadtländer Riviera dem Dichter:
Er findet dort, wo andere die unentwirrbare Verwicklung sehen, die einfache Lösung. Aber andererseits erblickt er sofort hinter jeder Lösung die neue Verwicklung. Er versteht das Leben besser als alle anderen, aber ebendarum versteht er auch, dass das Leben im letzten Sinne unverständlich und unauflösbar ist. (Egon Friedell.)