Anne Perrier: Lyrikerin.

16. Juni 1922 – 16. Januar 2017.

 

Aufgenommen am 4. Juli 2007 in Lausanne.

Anne Perrier – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Am Abend ihres Lebens sitzt eine bescheidene alte Frau im Lehnstuhl. Zum Lesen braucht sie die Brille, doch zum Reden legt sie sie wieder ab. Sie hat die Matur gemacht, dann geheiratet. Ihr Mann Jean Hutter, den sie an der Uni kennenlernte, wurde Direktor der Editions Payot in Lausanne. Sie blieb im Haus und betreute die beiden Kinder. Daneben schrieb sie unter ihrem Mädchennamen Anne Perrier Gedichte, die nach und nach in zwölf Bänden Platz fanden. Dafür erhielt sie als erste Frau 2012 den „Grand Prix national de poésie“ des französischen Kulturministeriums. <

 

Die Poesie spricht in Bildern. Sie nennt Dinge der Welt, welche ein inneres Auge durch die Kraft des Wortes aufs Neue wahrnehmen kann. Die poetischen Bilder sind nicht nur Natur. Die Seele ist in ihnen aufgegangen. Sie sind nicht nur Anschauung, sie vermitteln Erkenntnis. Sie tun das von jeher auf eine Weise, die ebenso verständlich als unergründlich ist:

 

Wo mir die Rosen, wo mir die Veilchen, wo mir der schöne Eppich?

Da meine Rosen, da meine Veilchen, und da mein schöner Eppich.

 

In diesen Zeilen ist fast von nichts die Rede. Ein paar schöne Dinge der Natur werden mit ihrem Namen genannt, fragend. Dann werden dieselben Namen wiederholt, weisend. Wir wissen weder wer spricht, noch wer antwortet. Aber wir empfinden, dass diese Dinge dichterisch etwas sagen, das anders ungesagt bleiben müsste. Wir können nicht auf den Begriff bringen, was eigentlich mitgeteilt wird. Ein Horizont des Fühlens wird gesetzt, der Hörende erinnert Blumen und Frühling. Die Wiederholung lässt mit Klang und Rhythmus dem Ganzen (das doch nur ein Bruchstück ist) die Innigkeit des Gedichtes zuteil werden. Das Elementare des Lyrischen ist in diesen frühen Versen.

 

Eines seiner Elemente ist das Naturding, Eppich, Veilchen, Rose. Es ist hier mit einer Einfachheit gebraucht, hinter die nicht zurückgegangen werden kann; nur einmal gibt es ein Beiwort: schön. Sonst wirken die Dinge durch ihre Nennung, mit ihrem Namen, der von ihrer Erscheinung nicht zu trennen ist. Die Wirkung ist heute nach zweieinhalb Jahrtausen­den in einer fremden Sprache und fremden Kultur noch immer gegen­wärtig. Sie gehört zum Menschen so wie zum Ding, zum Dichter wie zu der Natur, die er mit Worten bildet.

 

Mit diesen Sätzen beginnt Walther Killy seine grosse Untersuchung zu den „Wandlungen des lyrischen Bildes“. Was er 1956, bezogen auf den Horizont der Weltpoesie, formulierte, beschreibt auch den Zauber, der von Anne Perriers Gedichten ausgeht, die sie 2007 im Alter von 85 Jahren der Kamera der „Plans Fixes“ und damit der Nachwelt vortrug.

 

Heute erklärt das Réseau vaudois des bibliothèques:

 

Obwohl Anne Perriers poetisches Werk abseits von Moden und Medienhypes liegt, wird es von der Kritik als eines derjenigen gefeiert, die in der zeitgenössischen französischsprachigen Lyrik einen wichtigen Platz einnehmen.

 

Anne Perriers Begabung fiel schon den ersten Lesern auf. Der Französisch­lehrer am Gymnasium, von ihr mit schüchternen Versuchen bedient, ermunterte sie zum Weiterschreiben. „Leider hat er die Erscheinung meiner Gedichte nicht erlebt“, sagt die Lyrikerin. „Er starb an Tuberkulose.“

 

Aber ein weiterer Leser, Abbé Charles Journet, damals Lehrer am Priester­seminar von Freiburg i. Ü., reagierte auf die Zusendung des ersten Gedichtbands so profund und feinfühlig, dass sich Anne Perrier von ihm gleich im Innersten verstanden fühlte und ihm fortan alles Geschriebene als erstem zu Gesicht brachte, bis ihn der Tod im Jahr 1975, wo er längst Kardinal war, wegraffte.

 

Ermutigung hatte Anne Perrier damals bereits durch die Genfer Revue „Lettres“ erfahren, zu deren Herausgebern der Kritiker und Literaturprofessor Marcel Raymond und der junge Jean Starobinski gehörten. Sie beantworteten die Post der jungen Frau dadurch, dass sie ihr die Fahnenabzüge ihrer Gedichte zuschickten. Anne Perrier wusste nicht, was sie damit anfangen sollte, und suchte Rat beim Vater, der bei dieser Gelegenheit erstmals von der Passion der Tochter erfuhr.

 

Für die Verbreitung von Anne Perriers Werk setzte sich bald auch der Lyriker, Schriftsteller und Kritiker > Philippe Jaccottet ein, ein Geistesver­wandter. Der Zauber seiner Texte liegt darin, mit leisen, unauffälligen Sätzen genau gesehene Wirklichkeit heraufzubeschwören: Auf der Veranda das zarte Rotkehlchen; an den Büschen die wispernden Blätter; im Dämmerlicht die verlöschenden Farben. Indem der Dichter das Wahrgenommene mit tastenden, fragenden, häufig auch provisorisch anmutenden Formulierungen umreisst, öffnen sich Durchblicke in neue Dimensionen.

 

Gleiches findet sich bei Anne Perrier. Die stille Kraft ihrer Gedichte veran­lasste > Doris Jakubec, sich mit Energie für die Anerkennung der Lyrikerin einzusetzen. Mit ihrem feinen Gefühl für Rhythmus und Musikalität erkannte die Literaturprofessorin, dass bei Anne Perriers Hervorbringungen, wie bei jedem guten Gedicht, Bild, Sinn und Klang zur Einheit verschmelzen. – Und Hervorbringungen sind die Texte ja im wörtlichen Sinn. Sie entstehen im Innern der Lyrikerin. Erst, wenn sie fertig sind, setzt sich Anne Perrier an die Schreibmaschine und tippt sie aufs Blatt.

 

Gleich ging der um ein Jahr ältere Altersgenosse, der Romancier Roland Donzé, vor. Das Herumfeilen, sagte er, sei nicht sein Ding. Nur wenn der Text in einem einzigen, schlafwandlerisch gezogenen Strich zu Papier komme (d’un jet), stehe jede Einzelheit an ihrem richtigen Platz, habe das Kapitel Spannung, die Erzählung einen Bogen, stimme alles in sich selbst (tout se tient).

 

Wenn es zum Schluss darum geht, die Folgerung aus der Begegnung im Anne Perrier in einem einzigen Satz zusammenzufassen, so findet sich der, wie nicht anders zu vermuten, in Lichtenbergs Sudelbüchern:

 

Hartleys Forderungen von einem guten Schriftsteller sind Plainness, sincerity and precision [Klarheit, Wahrhaftigkeit und Genauigkeit].

 

Besser kann man’s nicht sagen.

 

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