Micheline Calmy-Rey: Professorin an der Universität Genf. Das Anliegen der Weitergabe.

8. Juli 1945 –

 

Aufgenommen am 19. Juni 2024 in Genf.

Micheline Calmy-Rey – Association Films Plans-Fixes

 

> „Was für einen Eindruck von mir will ich den Menschen geben, die mich in fünfzig Jahren sehen werden?“ Alle Persönlichkeiten müssen sich im Innern diese Frage beantworten, sobald sie von den „Plans Fixes“ angefragt werden, ob sie sich für eine Aufnahme zur Verfügung stellen. Denn das Filmpantheon der Westschweiz feiert 2026 sein fünfzigjähriges Bestehen. Wer da eingeht, hat mehr Chancen als andere, die künftigen Generationen zu erreichen. So auch Micheline Calmy-Rey. <

 

Als Bühnenbild für ihre Vorstellung wählt Micheline Calmy-Rey einen Unterrichtsraum der Genfer Universität. Also nicht den Ort, in den sie sich gern zurückzieht (wie etwa ein Zimmer ihrer Wohnung), wo sie sich gibt, wie sie ist, und wo die Einrichtung etwas über sie sagt. Sondern die frühere Politikerin zeigt sich in einer Umgebung, in der sie aktuell ihre Lieblingsrolle spielt, konkret: die Rolle einer Gastprofessorin. Dafür lässt sie sich nicht am Haupt des hufeisenförmigen Seminartischs nieder, wo normalerweise der Seminarleiter sitzt, sondern an einem Seitenflügel, wo die Studenten Platz nehmen. Deswegen kann man aus Micheline Calmy-Reys Aufnahmesetting nur gerade ablesen, als dass sie heute am Global Studies Institute öffentliche Auftritte versieht.

 

Konsequenterweise sagt sie auch während der Aufnahme nichts über sich als Mensch. Fragen, die in diese Richtung zielen, wehrt sie energisch ab. Wenn sich Luis Lema erkundigt, nach welchen Kriterien sie sich als Genfer Staatsrätin bzw. Schweizer Bundesrätin ausrichtete und woher sie in politischen Krisen die Kraft zum Durchhalten bezog, weist sie ihn gleich zurecht: „Herausforderungen gehören zum Job. Da gibt es keine Zeit zum Philosophieren. Man muss handeln. Und zwar rasch.“

 

Auch über die Philosophie ihrer Lehre am Global Studies Institute der Universität Genf breitet sie sich nicht aus: „Wenn Sie glauben, dass ich da Geschichtchen aus meiner Zeit als Aussenministerin erzähle, täuschen Sie sich. Die Studenten wollen etwas Seriöses vernehmen über internationale Diplomatie, Schweizer Neutralität, Konfliktmanagement und globale Sicherheitspolitik. Am Ende des Semesters geben sie eine Bewertung ab. Da ist kein Platz für Anekdoten.“ Das Bild, das sie der Nachwelt überliefert, ist nicht das einer Feministin, nicht das einer Sozialdemokratin, nicht das einer Ideologin, sondern das einer Pragmatikerin: „Ich bin eine, die zupackt!“

 

Im klinisch sauberen, leeren Seminarraum trägt Micheline Calmy-Rey weisse Hosen und ein weisses, kragen- und ärmelloses Hemd. Das Kostüm erinnert an einen Pierrot (nur fehlen dafür die schwarzen Knöpfe) und an eine Ärztin (nur fehlt dafür die Brusttasche). Das spezielle, auf der Strasse nicht anzutreffende Outfit macht es schwer, die Person einzuordnen. Sie zeigt, dass sie „etwas für sich“ sein will. Gleichzeitig steht aber „Pierrot“ für Zirkus, und Zirkus für Politik. „Ärztin“ anderseits steht fürs Heilen, etwas ins Lot bringen. Zwischen diesen Polen hat sich Micheline Calmy-Rey auch bewegt, zuerst als Genfer Finanzministerin, dann, zwischen 2002 und 2011, als Schweizer Aussenministerin.

 

Laut der Beschreibung ihrer Tätigkeit, die sie für die Universität Genf verfasst (oder zumindest abgesegnet) hat,

 

... hat sie sich dafür eingesetzt, die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union auszubauen und zu vertiefen, indem sie den sogenannten bilateralen Weg gestärkt und erweitert hat. Sie hat eine stärkere Präsenz der Schweiz über den europäischen Kontinent hinaus gefördert, insbesondere in Asien, und eine Politik der aktiven Neutralität verfolgt, indem sie sich für Frieden, die Achtung der Menschenrechte und die Bekämpfung der Armut eingesetzt hat. Zu den Höhepunkten dieser Politik zählen die Lancierung der Genfer Initiative, ihr entscheidender Beitrag zur Einrichtung des Menschenrechtsrats, zur Unabhängigkeit des Kosovo, die Vermittlung zwischen Armenien und der Türkei, Georgien und Russland sowie die Verabschiedung eines dritten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen, das den Beitritt des „Magen David Adom” zur Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ermöglichte.

 

Während am 16. Juni 2024 die Gastprofessorin und frühere Politikerin vor der Kamera von diesen Themen spricht, werden ihre Ausführungen von der Frage begleitet: Was wird man in fünfzig Jahren noch von der „Genfer Initiative“ wissen? Was vom Konflikt zwischen Georgien und Russland? Was von der Unabhängigkeit des Kosovo? Was vom Menschenrechtsrat? Was von Micheline Calmy-Rey? Was von der Rettung der Genfer Kantonalbank? Was von Corona? (Die Pandemie brachte die Genfer Virologie-Professorin > Alexandra Calmy zwei Jahre vor der Mutter in die „Plans Fixes“.)

 

Bezeichnenderweise trägt Micheline Calmy-Rey an jedem Handgelenk eine Uhr. Links eine konventionelle, rechts eine Smart- oder Applewatch. Beide erinnern an die Verse von Andreas Gryphius:

 

Nichts ist / das ewig sei / kein Erz / kein Marmorstein.

Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.

 

Die verfliessende Zeit. Gegen sie hilft auch die Kosmetik nichts, die dem Gesicht der 79-jährigen Ex-Politikerin faltenlose Jugendlichkeit und grosse, weite Augen schenkt. „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“, titelt heute die „Süddeutsche Zeitung“: „Die Langlebigkeitsbranche boomt, jeden Monat gibt es ein neues Wundermittel. Die Sehnsucht nach Tabletten und Pülverchen für die Verjüngungskur offenbart einen üblen Reduktionismus – die menschliche Hinfälligkeit wird kollektiv verdrängt.“

 

Aber es ist vorbei mit dem „goldenen Zeitalter der Sicherheit“. Unter diesen Begriff stellte Stefan Zweig 1942 das erste Kapitel seiner „Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers“:

 

In diesem rührenden Vertrauen, sein Leben bis auf die letzte Lücke verpalisadieren zu können gegen jeden Einbruch des Schicksals, lag trotz aller Solidität und Bescheidenheit der Lebensauffassung eine grosse und gefährliche Hoffart. Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur „besten aller Welten“ zu sein. Mit Verachtung blickte man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten herab als auf eine Zeit, da die Menschheit eben noch unmündig und nicht genug aufgeklärt gewesen. Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen „Fortschritt“ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen „Fortschritt“ schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstösslich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik.

 

Auch Micheline Calmy-Rey steht für die „besten aller Welten“ mit ihrer „regelbasierten“ Politik, internationalen Institutionen und Übereinkommen. In ihrer Amtszeit hatten sie noch Gültigkeit. Aber heute, wo der Rauch kanadischer Waldbrände die Luft in der ganzen Schweiz dunstig eintrübt?!

 

Gestern Abend brachte die Tagesschau des Schweizer Fernsehens ein interview mit Mike Pompeo, Aussenminister der USA in der ersten Amtszeit von Präsident Trump:

 

Heute lehren Sie an der Columbia Universität in New York. Wie hat sich ihr Blick auf die Weltpolitik verändert?

 

Mike Pompeo: Du meine Güte. Der hat sich in den ganzen vergangenen zehn Jahren verändert. Ich habe akzeptiert, dass die Institutionen, die der Welt in der Zeit nach dem kalten Krieg gut gedient haben, grösstenteils kaputt sind und nicht mehr repariert werden können: die Welthandelsorganisation, die UNO, der internationale Strafgerichtshof ... all diese Institutionen sind kaputt. Lange Zeit dachte ich, dass man sie reparieren könne; das glaube ich jetzt nicht mehr.

 

Andreas Gryphius: „Es ist alles eitel [= nichtig]“, 1637.

 

Du siehst / wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.

Was dieser heute baut / reisst jener morgen ein:

Wo ietzund Städte stehen / wird eine Wiese sein /

Auf der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden:

Was ietzund prächtig blüht / soll bald zertreten werden.

Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein /

Nichts ist / das ewig sei / kein Erz / kein Marmorstein.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.

 

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