Liliane Bergier: Krankenpflegerin und Lehrerin.

2. Juni 1923 – 22. August 2011.

 

Aufgenommen am 30. April 1998 in Lausanne.

Liliane Bergier – Association Films Plans-Fixes

 

> In der laufenden Legislatur will die Stadt Lausanne dreissig Strassen und Plätze zu Ehren von Frauen benennen oder umtaufen. Unter den ersten 17 figuriert ein bisher namenlos Plätzchen zwischen der Rue du Maupas und der Avenue du 24 Janvier. Neuerdings heisst es: „Place Liliane Bergier (1923-2011). Krankenschwester und Lehrerin. Sie gehörte 1961 zu den ersten Frauen, die in den Gemeinderat von Lausanne gewählt wurden.“ <

 

Liliane kam in Aubonne an schöner Lage überm Genfersee zur Welt. Der Mutter stand ein Hausmädchen aus der Deutschschweiz zur Seite. Der Vater betrieb eine Arztpraxis. Daneben wohnte eine Angestellte als Praxis- und Haushalthilfe unterm Familiendach. Wie > Doktor Perrin in Grandson nahm Doktor Bergier die Kinder gern mit auf Hausbesuche: „Er hatte keine Zeit, sich mit uns abzugeben“, erklärt die 73-jährige Tochter bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“. „Doch im Auto hatten wir ihn für uns.“

 

Wer sich damals dem Dienst der andern gestellt hatte, schaute nicht auf die Uhr. Die Diakonissin > Edith Moser, Gemeindekrankenschwester im benachbarten L’Isle, hatte keine geregelte Arbeitszeit. Zwischen morgens sechs und abends zehn Uhr konnten die Hilfsbedürftigen auf sie zählen. Ihr Leben bestand in Nächstenliebe. Darin lagen für sie Aufgabe, Lohn und Sinn.

 

Weder der Vater noch der Bruder, der Medizin studierte, noch Liliane, die sich zur Krankenschwester ausbilden liess, wurden von diesen Arbeitsbedingungen abgeschreckt. Siebzig Stunden pro Woche betrug der Dienst im Spital. Die Schwestern hatten einen Tag pro Woche und einen Nachmittag pro Monat frei. Als ledige Wesen wohnten sie auf dem Gelände im Schwesternhaus. Die Diakonissen arbeiteten um Gottes Lohn. Die Entschädigung ging ans Mutterhaus. Von diesem Ideal beeinflusst, stellten die weltlichen Schwestern ebenfalls keine hohen finanziellen Ansprüche. Für alle bedeutete Krankendienst: Selbstlose Hingabe.

 

Nicht verwunderlich, liess sich Liliane Bergier bei ihrer Berufsentscheidung vom Rat des medizinstudierenden Bruders leiten: „Schau, auf welchem Gebiet du nützlicher sein kannst!“ Neben der Krankenpflege standen nämlich auch der Arztberuf und die Naturwissenschaften zur Erwägung. Liliane hatte – damals eine Seltenheit – die Matur gemacht (Latein und Englisch). Dabei hatte sich Mathematik als ihre Stärke erwiesen. Und Physik als Lieblingsfach. Aber schon beim Zinnsoldatenspiel mit den Brüdern war Liliane nicht der Kampf, sondern die Rettung zugewiesen worden: Ihre Figuren trugen die Rotkreuzbinde.

 

Einmal als Schwester diplomiert, erlebte Liliane Bergier die Entwicklung des Berufs von der mildtätigen Handreichung zur Pflegewissenschaft. Am Anfang ihrer Ausbildung an der Ecole d’infirmières de la Source bestand die Lehre aus einem Theorie- und zwei Praxisjahren. Da hiess es Schwimmen und Selberschauen. Den Schwestern oblag alles, was nicht die Ärzte machten. Aufteilung der Berufsfelder und Spezialisierung der Pflege kamen erst später.

 

Liliane Bergier aber konnte den Wandel mitgestalten. Kaum diplomiert, begann sie, die Pflegeschülerinnen zu unterrichten. Auf einem Foto sieht man sie an die Wandtafel schreiben; in der Tracht natürlich. In den Hörerbänken finden sich lauter Hauben: Sie gehören den Schülerinnen, aber auch ein paar Nonnen und Diakonissen.

 

Der Mangel an Gesundheitspersonal zwang die Behörden, den Beruf attraktiver zu machen. Sie verkürzten die Arbeitszeit und erhöhten den Lohn. Um Eltern und junge Leute für die neue Ausbildung zu gewinnen, fuhr Liliane Bergier durchs Land. Ihre Auftritte qualifizierten sie für den Unterricht, dann für die Gremienarbeit und schliesslich für die Leitung der Ausbildung. Von den regionalen und kantonalen Berufsorganisationen stieg sie auf zur Präsidentin des schweizerischen Krankenpflegeverbands. Im Alter von 51 Jahren wurde ihr die Direktion der neugeschaffenen Ecole supérieure d’enseignement infirmier (Höhere Fachschule für Krankenpflege des Schweizerischen Roten Kreuzes in Lausanne) angeboten. Wie hatte der Bruder gesagt? „Schau, auf welchem Gebiet du nützlicher sein kannst!“

 

Als in der Waadt als erstem Kanton der Schweiz das Frauenstimm- und Wahlrecht eingeführt wurde, lud der Parti Libéral Vaudois Liliane Bergier ein, sich auf seine Liste setzen zu lassen. Zu ihrer Überraschung wurde sie gewählt. In den zehn Jahren ihrer Lausanner Parlamentszugehörigkeit präsidierte sie zwei Kommissionen: die eine für die Renovation des Rathauses (das machte ihr Spass), die andere für die Reglementierung der Hundetoiletten (das veranlasst sie einem belustigten Schulterzucken).

 

In der Zeit der höchsten Belastung bot ihr eine Freundin an, bei ihr einzuziehen. Jaqueline hatte eben den Mann verloren, mochte aber Haus und Garten nicht aufgeben. So bildeten die beiden Frauen eine Hausgemeinschaft. Als Liliane Bergier pensioniert wurde, verteilten sie die Last neu: Wochenweiser Dienst im Haus- und Gartenwesen.

 

Die beiden Frauen kamen damit auf die gleiche Lösung wie Pfarrer Ernst Schwyn, der Gründer der schweizerischen Telefonseelsorge (heute: Die dargebotene Hand, Nummer 143), nur wechselten er und seine Frau die Chargen monatlich: „Eines von uns wird früher als das andere sterben. Darum ist es gut, wenn sich beide in allem auskennen. Dann wird Barbara nicht sagen müssen: ‚Buchhaltung? Kann ich nicht. Hat Ernst gemacht!’ Und ich werde nicht zu sagen brauchen: ‚Jetzt bin ich auf einen Mahlzeitendienst angewiesen. Denn bei uns hat immer Barbara gekocht.’“

 

Ja, es ist schon so. Wie immer man’s einrichtet, am Ende heisst’s: „Es muss gestorben sein!“ (Ferdinand Raimund). Nicht allen jedoch wird es nach dem Ableben vergönnt sein, wie Liliane Bergier eine Aufnahme in den „Plans Fixes“, ein Plätzchen in Lausanne und ein Porträt im „Dialog mit Abwesenden“ zurückzulassen ...

 

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