Cilette Cretton: Feministische Politikerin. „Man musste fest und laut reden!“

9. August 1945 –

 

Aufgenommen am 16. Juli 2024 in Martigny.

Cilette Cretton – Association Films Plans-Fixes

 

> Cilette Cretton entspricht nicht dem Klischee. Nicht dem Klischee der Feministin, nicht dem Klischee der Rebellin. Wer sie als das bezeichnet, hat nicht genau hingeschaut. In Wirklichkeit handelt es sich bei ihr um einen Menschen, der aufrecht durchs Leben geht und den Kopf fest auf den Schultern trägt. <

 

Unabhängigkeit, gesunder Menschenverstand, kritischer Sinn. Bereits Cilette Crettons Eltern und Grosseltern waren Lehrer und gaben vor, was zu laufen habe. Für ihre Tätigkeit schuf die wissenschaftliche Didaktik nach 1980 den Begriff „classroom management“. Früher, zur Zeit der Eltern und Grosseltern, hiess der Lehrer „le régent“: Leiter der Lernprozesse; Leiter der Kinderschar; aber auch: Leiter seiner selbst. Cilette Cretton, die frühere Lehrerin und, wie die „Plans Fixes“ sagen, feministische Politikerin, entspricht diesem Ideal.

 

Die Erziehung zur Selbständigkeit kam vom Vater. Seine Devise war: Selber überlegen, selber denken! Daneben wurde Cilettes Sinn für Gerechtigkeit von der Mutter geschärft. Sie arbeitete, wie der Ehemann, in Martigny an der Primarschule. Am Monatsende bekamen beide den Lohn. Und jedesmal schimpfte die Mutter: „Warum verdiene ich nur die Hälfte? Das ist ungerecht!“ Das Vorbild der Eltern ermutigte Cilette Cretton auszusprechen, was sie nicht in Ordnung fand, und ihre Offenheit machte sie bekannt. „Die Köpfe, welche die Gabe lichtvoller Klarheit haben, erlangen Beifall“, erklärt Balthasar Gracián.

 

Als das Frauenstimm- und Wahlrecht eingeführt wurde, erhielt Cilette Cretton einen Anruf von > Pascal Couchepin, damals Stadtpräsident von Martigny: „Wir müssen jetzt Frauen auf der Liste bringen. Stellst du dich zur Verfügung?“ Cilette Cretton verlangte Bedenkzeit. Um allfällige Einwände zu zerstreuen, ergänzte der gewiefte Politiker, sie könne im Fall einer Wahl immer noch zurücktreten und ein altes Parteimitglied nachrutschen lassen. Das Argument stachelte Cilette Cretton auf. „Ihr könnt mich eintragen“, rief sie. „Aber ich werde mich nicht dazu verwenden lassen, einem Mann den Sitz vorzuwärmen!“

 

Cilette Cretton kam für den Parti radical in den Grossen Rat. Damals bildeten die Freisinnigen im Wallis traditionellerweise die Opposition. Wenn es darum ging, Verkrustetes aufzubrechen, war das nur von ihrem Lager aus möglich, wenngleich nicht leicht. In der ersten Legislatur war Cilette Cretton – bei einer Gesamtzahl von 130 Abgeordneten – nur eine von sieben Parlamentarierinnen. In der zweiten Legislatur eine von vier ...

 

Anfangs herrschte vollkommene Stille, wenn sich eine Frau zu Wort meldete: „Es war wie bei einer gefährlichen Nummer im Zirkus. Die Zuschauer erwarteten, dass die Artistin abstürze. Doch dann begannen die Männer zu bemängeln, dass wir die Usancen nicht beachteten. Wir trugen unsere Anliegen vor, ohne einleitend die wichtigen Leute im Saal zu grüssen und uns bei ihnen zu bedanken.“

 

Noch mehr Befremden weckte Cilette Cretton, als sie sich mit einer eigenen Liste an der Wahl um einen Walliser Regierungssitz beteiligte – neben der Partei, die sie damals präsidierte. Aber die Mehrheit hatten keine Frau aufstellen wollen. Die „Rebellin“ – man spricht in solchen Fällen von „wilder Kandidatur“ – wurde in den beiden Wahlgängen, die ihretwegen nötig wurden, um jeweils fünftausend Stimmen geschlagen.

 

In die Regierung kam sie nicht. Aber dafür in den Kanton Waadt. Am Abend des verlorenen zweiten Wahlgangs rief sie die Waadtländer Bildungsministerin an und lud sie ein, die Direktion des Volksschulwesens zu übernehmen. „110’000 Schüler!“ ruft die 79-Jährige. „Und dabei hatte ich bisher nur in Klassen von 10 bis 15 Schülern unterrichtet!“ Aber sie traute sich’s zu: „Ich bin ja nicht allein! Die andern werden mir helfen.“ Typisch Frau, möchte man(n) sagen.

 

Ungewöhnlich ist des weiteren, dass sich Cilette Cretton als Freisinnige für die Inklusion einsetzte. Im Kanton Zürich hat ihre Partei gerade beschlossen, sie rückgängig zu machen. Schwache Schüler sollen wieder getrennt von den starken aufwachsen. „Dabei wissen wir Lehrer“, erklärt Cilette Cretton, „dass uns die starken Schüler nicht brauchen. Sie kommen auch ohne uns ans Ziel. Die schwachen aber, die verlangen unsere Zuwendung.“ Der zuständige Walliser Regierungsrat widersetzte sich: „Die Beschäftigung mit den Zurückgebliebenen bringt der Walliser Volkswirtschaft nichts!“ Cilette Cretton: „Er war nicht der einzige. So dachten damals alle.“

 

Bei ihrer Initiative wurde die „Rebellin“ jedoch durch das Stadtoberhaupt von Martigny unterstützt. Bis zu seiner Wahl in den Bundesrat 1998 präsidierte der freisinnige Pascal Couchepin die Walliser Vereinigung für körperlich und geistig Behinderte sowie von 1995 bis 1998 die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft. „Jeder ist zu etwas da, und jeder ist in der Unvollkommenheit da“, findet sich dazu in den Schriften des Basler Erziehungsphilosophen Paul Häberlin. „Erziehung arbeitet im Vertrauen darauf, dass nichts verloren sein kann, was in Liebe geschieht.“

 

Ungewöhnlich schliesslich der Zivilstand von Cilette Cretton: Mutter eines Sohnes und geschieden, aber nicht getrennt. – Als sie mit dem Mann nach wenigen Ehejahren übereinkam, Scheidung sei für beide das Beste, schlug er vor, die gemeinsame Adresse zu behalten: Das Haus sei gross genug. Sie kämen gut aneinander vorbei. Für den siebenjährigen Jungen aber sei es besser, nicht von einer Wohnung zur andern wechseln zu müssen, um einen Elternteil zu sehen.

 

Balthasar Gracián:

 

Originelle und vom Gewöhnlichen abweichende Gedanken äussern ist ein Zeichen eines überlegenen Geistes. Wir dürfen den nicht schätzen, der uns nie widerspricht: denn dadurch zeigt er keine Liebe zu uns, vielmehr zu sich. Man lasse sich nicht durch Schmeichelei täuschen und zahle für dieselbe, sondern man verwerfe sie. Auch rechne man es sich zur Ehre, von einigen getadelt zu werden, zumal von solchen, die von allen Trefflichen schlecht reden. Hingegen soll es uns betrüben, wenn unsere Sachen allen gefallen, weil es ein Zeichen ist, dass sie nicht taugen: denn das Vortreffliche ist für wenige.

 

Gelassen, überlegen und freundlich führt Cilette Cretton ihre Ansichten aus. Wie die Begegnung zeigt, geht es ihr nicht um eifernde Ideologie. Ihr Feminismus erinnert vielmehr an Bertolt Brechts Verse:  

 

Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.

Er ist keine Tollheit, sondern

Das Ende der Tollheit.

Er ist das Einfache

Das schwer zu machen ist.

 

Man höre auf die Überlegenen!

 

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