26. April 1933 – 31. Dezember 2007.
Aufgenommen am 1. Oktober 2002 in Freiburg i. Ü.
Etienne Chatton – Association Films Plans-Fixes
> Er brauchte nicht zu fragen, was es aus ihm geben werde. Die Antwort war klar: Der Älteste von sieben Bauernkindern wird Knecht! Das war schon zu Gotthelfs Zeiten so. Doch Etienne Chatton unterwarf sich diesem Los nicht. Er setzte sich mit 15 in die Sekundarschule zu den Zwölfjährigen und trat damit eine Entwicklung an, die ihn zum Dr. phil., zum ersten Denkmalpfleger des Kantons Freiburg und zum Museumsgründer machte. <
„Der Mensch, der nicht geschunden wird, wird nicht erzogen.“ Diesen Vers des griechischen Komödiendichters Menander setzte Johann Wolfgang von Goethe über seine Autobiographie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. – Das erste Buch beginnt mit den berühmt gewordenen Zeilen:
Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig, Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.
In den „Plans Fixes“ beginnt Etienne Chatton seine Selbstdarstellung nun ebenfalls mit dem Horoskop: Auf die Welt gekommen am 26. April im Zeichen des Stiers. Sonne vereint mit Venus. Kein gutes Zeichen für einen Priester. (Dabei hatte er als Bub von einer geistlichen Laufbahn geträumt. Die Messgewänder hatten es ihm angetan; und die Schönheit des Altarraums.) Konjunktion von Merkur und Mond. Sie bedeutet Stärke der Gefühle. Ein gutes Zeichen für einen Kunstfreund, Sammler und Museumsgründer.
Als Ältester auf dem Hof musste Etienne Chatton indes zuerst einmal arbeiten helfen. („Lehre wärche“ heisst ein schönes Kapitel in der Autobiographie des Bauernsohns Simon Gfeller. Er wurde, wie Chatton, zuerst Lehrer und dann, beeinflusst von Gotthelf [neben dem er in Lützelflüh begraben liegt], Berndeutschdichter. Mit seinem Romanerstling „Heimisbach“ zog er gegen die Alkoholsucht der Landbevölkerung ins Feld. Der Erfolg war so durchschlagend, dass die Emmentaler Talschaft Dürrgraben 1968 offiziell den Namen Heimisbach annahm.)
Im Kanton Freiburg waren die Bauernkinder zwischen dem 1. Mai und dem 1. November der Schulpflicht enthoben, damit sie ihre Arme dem Hof leihen konnten. Auf diese Weise wurde Etienne Chatton zum Zurückgebliebenen. Darum erwog eine Tante, ihn in eine Spezialschule schicken zu lassen. Aber mit 15 schaffte er es aus eigener Kraft noch in die Sekundarschule. Dort war er drei Jahre älter als die übrigen Kameraden, und mit einer Körpergrösse von 1 Meter 80 überragte er sie um mehr als Haupteslänge. Orthographie war, dem schulischen Rückstand geschuldet, anfangs nicht seine Stärke. Aber er holte auf, und am Ende ermöglichten ihm die Noten den Übertritt ins Lehrerseminar. Es bildete damals neben dem Priesterseminar für die armen und bildungsfernen Schichten die Alternative zum Gymnasium.
In Chattons Bank sass > Michel Corboz, der Bäckerssohn aus dem Freiburger Dorf Marsens. Am ersten Tag des Lehrersseminars schob er einen Satz von Victor Hugo zu Etienne übers Pult: „Ich bin eine Kraft, die geht, ich bin ein Erdwurm, verliebt in einen Stern.“ (Je suis une force qui va, je suis un ver de terre amoureux d’une étoile.) Fünfzehn Jahre später unternahm er eine internationale Karriere als Chor- und Operndirigent beim Label Erato.
Etienne Chatton begann aus finanziellen Gründen nach dem Diplom gleich zu unterrichten. War aber die Schule aus, setzte er sich an der Universität in die Vorlesung für Kunstgeschichte: „Karl der Grosse und die europäische Zivilisation“. Bisher war sein Blick nicht über die Freiburger Kantonsgrenze hinausgegangen. Nun erfasste er die immensen kulturellen und geschichtlichen Dimensionen des Kontinents: „Das weckte in mir eine Riesenbegeisterung.“ (J’en étais ébloui.)
Sein Enthusiasmus strahlte aus. Ein Professor trat auf ihn zu: „Ich möchte Sie zum kantonalen Denkmalpfleger machen. Dafür müssen Sie aber promovieren und sich am Louvre weiterbilden. Dann wird man Sie wählen. Sie haben heute noch nicht die Qualifikationen, die das Amt verlangt, aber bereits die erforderlichen Nachteile: ‚Sie sind ein Kämpfer und haben Einsteckvermögen.’“
Gesagt, getan. Neben dem Unterricht schrieb Etienne Chatton die Dissertation. Dann kam er nach Paris ans Laboratoire du Louvre. Dort lernte er den Umgang mit dem historischen Erbe. Und wieder wurde er umgehauen (j’en étais ébloui): Eine höhere Leitung – Chatton glaubt an die Sterne –machte ihn zum Assistenten des Generalinspektors der Schlösser von Fontainebleau, Versailles und der Loire.
Jetzt war er qualifiziert für die Denkmalpflege des Kantons Freiburg. „Das war kein Posten für einen Diplomaten, sondern für einen Samurai“, erklärt er. Gleich an der ersten Sitzung kam es zum Zusammenstoss. Der Kantonsarchitekt wollte die vierhundertjährige Kirche des Dorfes Villarepos abreissen und durch einen Neubau ersetzen. Etienne Chatton opponierte. Die Kantonsregierung hob den Finger auf: „Wenn Sie so weitermachen, sind Sie noch vor Ablauf der Probezeit Ihr Amt los!“ Dass sich > Franz Weber mit einer Kampagne einmischte, machte die Sache nicht besser. Etienne Chatton: „Die katholischen Priester glauben, sie erwürben einen besonderen Platz im Paradies, wenn sie eine Kirche gebaut hätten.“
Nach zwanzig Jahren war er zermürbt. Man arbeitete gegen ihn. „Es braucht eine jüngere Kraft“, sagte er sich. „Doch zu meiner Enttäuschung wurde ein Diplomat gewählt.“ Nun ja. Nach vorne schauen! Etienne Chatton trat für seine letzten zehn Berufsjahre in die Kantonsbibliothek ein. Dort schuf er zwölf Bücher und eine neue Musiksammlung: „Der gute Konservator ist ein Gauner, der schlechte produziert Karteikarten.“ Durch intensive Gespräche brachte er die Hinterlassenschaft der Komponisten Pierre Kaelin, Oscar Moret, Bernard Chenaux und Georges Aeby in die Obhut der Öffentlichkeit.
Nach der Pensionierung wurde er Konservator des Schlosses von Gruyères. Wie es seinem Charakter entsprach, verwandelte er das statische Museum in ein dynamisches. Dabei legte er das Gewicht auf die Frau („sie hat sich in den letzten hundert Jahren grundlegend verändert“) und die Kunst des Phantastischen (l’art phantastique), eine Schnittstelle zwischen Besessenheit, Religion und Übersinnlichkeit.
Fürs Abseitige hatte Etienne Chatton stets ein besonderes Flair. „Unser Familienwappen besteht aus einem Zauberstab, einem roten Stern (dem Wahnsinn) und einen schwarzen Stern (der Melancholie). Unter den Vorfahren gab es in jeder Generation einen Hexer und einen Hellseher. Von meinen vier Kindern ist eines mit Heilkraft begabt, ein anderes mit Hellsicht.“
Johann Wolfgang von Goethe:
Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiss es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.
(Ende von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.)