19. Mai 1944 – 13. Januar 2014.
Aufgenommen am 5. Februar 2002 in Yverdon-les-Bains.
Roger Zanetti – Association Films Plans-Fixes
> Von der Strasse auf die Bühne, und von der Bühne wieder auf die Strasse. Doch immer fällt Roger Zanetti auf die Füsse: „Nach meiner Erfahrung entsteht das Neue in den Situationen, wo man sich am Ende glaubt.“ Damit bestätigt der Lebensgang des Gauklers aus Yverdon die Feststellung des Schriftstellers Heiner Müller aus Berlin: „Damit etwas kommt, muss etwas gehen.“ <
Roger Zanettis Bühnenerfahrung zeigt sich daran, dass er in seinem Haus an der Rue des Cygnes in Yverdon so schlicht, zugänglich und greifbar wirkt, als wären weder Mikrofon noch Kamera der „Plans Fixes“ zu ihm in die Stube gedrungen. Ganz authentisch versteht sich der 58-Jährige zu geben. Damit erfüllt er das Profil jener Leute, die in den darstellenden Künsten mit sokratischer Ironie die Rolle des Gauklers und Clowns wahrnehmen. Sie sprechen das Publikum von unten her an. Der Grosse macht sich klein.
Im begrenzten Raum der Bühne tut der Gaukler so, als er an den Gegenständen scheitere, und dann wieder tut er so, als ob er sie beherrsche. Aufs Mal entsteht der Eindruck, dass alles „aufginge“, und Ausdruck dieser (Er-)Lösung ist die Harmonie, der Wohlklang. Wir staunen: Da tut einer, als ob es Schönheit gäbe ... und es stimmt! Die Schönheit existiert ... im Moment. Über den Moment hinaus jedoch nur in uns. So werden beide, Publikum und Gaukler, zu Verschworenen des Moments, wissend, dass es jenseits des Spiels das gibt, was wir „Wirklichkeit“ nennen, und aus diesem Wissen heraus geniessen sie das Spiel mit noch mehr Hingabe, der „Wirklichkeit“ zum Trotz.
Bei Roger Zanetti spielte die Kindheitsprägung mit: Nesthäkchen. Die beiden Brüder waren neun, beziehungsweise zehn Jahre älter als er. Mit ihnen konnte er nicht in Konkurrenz treten. Die Gewinnerrollen waren schon besetzt. Frei aber war noch die Position des Rührenden und Herzgewinnenden. Roger Zanetti erwarb sie durch den Schmerz der Verachtung. Als er mit sieben Jahren an der Waadtländer Riviera in La Tour-de-Peilz zur Schule kam, trug er zum hämischen Gaudi der Kameraden kurze Hosen und handgestrickte Strümpfe. Ein einziger Schüler zeigte Mitleid mit ihm und trug ihm seine Freundschaft an: > Claude de Ribaupierre. Der Sohn des Kunstmalers François de Ribaupierre wusste schon, dass es aus ihm einen Comic-Zeichner namens Derib geben werde. Und als Erwachsener verbreitete er ab 1969 mit Yakari, einem der bekanntesten Comics in Europa, die Botschaft der Liebe, des Respekts und des Einsseins mit der Natur.
Roger Zanetti aber kam auf die Strasse. Und zwar gezwungenermassen freiwillig. Das Paradox erklärt sich durch den Lebensgang. Die Eltern rieten dem Sohn zu einem technischen Beruf. Er absolvierte das Technikum in Genf und wurde Maschineningenieur. Mit 22 Jahren heiratete er. Die Braut war 19. Schon kam das erste von drei Kindern. Roger Zanetti fand eine Stelle beim Kamerahersteller Bolex in Yverdon. Doch bald regte sich das Verlangen, die Gleise zu verlassen. Er sagte zu seiner Frau: „Ich hätte Lust, mein Glück in Paris zu machen. Vielleicht könnte ich dort als Chansonnier unter Vertrag kommen. Ich würde mir zum Starten das Alterskapital auszahlen lassen. Was meinst du?“ „Versuch’s!“
Als er bei den französischen Agenten mit Vorsingen und Vorspielen ergebnislos durch war, zog er weiter nach Belgien. Dort eröffnete ihm die Frau: „Wir haben kein Geld mehr.“ Darauf erwiderte er: „Ich hole gleich welches.“ Er fuhr nach Yverdon und zog mit der Gitarre von Beiz zu Beiz. Der Abend brachte fünfzig Franken in die Zöllnermütze ein, die er vor den Gästen herumkreisen liess. Jetzt zog er weiter nach Lausanne, erwarb einen Gewerbeschein und stellte fest, dass er mit seinen Auftritten sich und die Familie durchbringen konnte.
Mit 31 Jahren erhielt er das Angebot des Stadtpräsidenten von Yverdon > Pierre Duvoisin, den Jugendtreff zu leiten. „Ohne den Job zu kennen, sagte ich zu.“ Vier Jahre später zog „Le Caveau de la Thièle“ ins historische Schloss um und erweiterte sich zum „Théâtre de l'Echandole“, das Jugendliche zum Spielen auf der Bühne animierte, Veranstaltungen durchführte und die Auftritte von Gastkünstlern organisierte. Auf diese Weise wurde Roger Zanetti zwischen 1979 und 1987 mit allen Wassern gewaschen, die der Theatergott über die Bühnenbretter der Bäderstadt fliessen lassen konnte, und sein Talent wurde unter den Künstlern bekannt.
Die Zusammenarbeit mit > André Steiger führte zur Zusammenarbeit mit Dimitri. Für den Clown organisierte Roger Zanetti zwei Jahre lang die Tourneen und spielte den Bühnenmanager. Dazwischen trat er selber auf und trug an Soloabenden Lieder und Texte zu Gitarre und Alphorn vor. Das brachte ihn in Kontakt mit Bernie Schürchs Mummenschanz. Mit den Pantomimen reiste er zwei Jahre lang quer durch Amerika und ergänzte singend, zupfend und blasend die stummen Darbietungen durch Töne. Die Frau arbeitete als Backstage-Managerin. Wenn eine Nummer zuende gespielt war, versorgte sie die Kostüme. Nach dem Schlussapplaus war nur noch ein Koffer zu schliessen, dann konnte die Truppe weiterziehen. Daraufhin diente Roger Zanetti zwei Jahre lang > Emil als Tourneemanager. „Wir druckten die Plakate jeweils vergebens. Noch bevor ich sie aufhängen konnte, waren die Vorstellungen ausverkauft.“
Dann zog es ihn wieder auf die Strasse. „Nach meiner Erfahrung entsteht das Neue in den Situationen, wo man sich am Ende glaubt.“ Damit etwas kommt, muss etwas gehen. Roger Zanetti kam auf den Gedanken, durch einen befreundeten Bootsbauer ein teleskopierbares Alphorn aus Fiberglas konstruieren zu lassen: „Es lässt sich wie eine Fischrute zusammenschieben und ist so leicht, dass es auf dem See schwimmt. Der Ton ist fabelhaft. Bei Grandson schwebt er übers spiegelglatte Wasser die Juraflanke empor und kommt als dreifaches Echo zurück.“ – Wenn Roger Zanetti von dieser Erfahrung spricht, macht die Ergriffenheit aus dem Gaukler und Erfinder noch einen Dichter.