14 September 1922 – 15. Oktober 2024.
Aufgenommen am 26. Mai 2000 in Courtelevant.
Alexandre Voisard – Association Films Plans-Fixes
> Wie es sich für die Arbeitsstätte eines Lyrikers gehört, hat der 77-jährige Alexandre Voisard ein paar beschriebene Blätter auf die Pultfläche gelegt, einen Becher mit Schreibutensilien und ein aufgeschlitztes Briefkuvert. Während der Aufnahme für die „Plans Fixes“ wandert sein Blick ein paarmal auf das oberste Blatt und holt von ihm die Stichwörter für die Schilderung seines Lebensgangs. Er führte über zwei, drei abgebrochene Ausbildungen und verschiedene Jobs am Ende zum Ehrentitel „Poet der jurassischen Revolution“. <
Lazare, der kurz hinausgegangen war, kam mit einem Tintenfass, einer Feder und einer ganzen Handvoll Papier zurück; er setzte sich unter die Lampe und begann, Musik zu kopieren. Madame Chanteau, deren zärtliche Blicke seit ihrer Rückkehr nicht vom Sohn gewichen waren, wurde plötzlich sehr bitter.
„Schon wieder deine Musik!“
Lazare hatte im August nach seinem Abitur die Schule verlassen und war seit acht Monaten unterwegs, ohne sich für einen Beruf zu entscheiden, nur von Musik begeistert, was seine Mutter zur Verzweiflung brachte.
Die Verhältnisse, die Emile Zola an den Anfang seines Romans „La Joie de vivre“ stellt, haben in ihrer Weise auch Alexandre Voisard geprägt. Nur lebte er nicht am Rande Frankreichs in der Normandie, sondern im Pruntruterzipfel am Rand der Schweiz. Und nicht die Mutter war es, die bitter wurde, sondern der Vater. Es ging auch nicht um Musik, sondern um Lyrik. Aber immer noch nahm niemand seine Passion ernst. Man sah darin einen Spleen, nicht eine Berufung. Der Vater drängte auf eine seriöse Tätigkeit: „Wenn du schon deine Ausbildung am Collège abbrichst, dann mach wenigstens eine Lehre bei der Post! Wie willst du dich sonst durchbringen?“
Den Ausschlag zum Berufseinstieg gab indes nicht der elterliche Druck, sondern das Wort eines zehn Jahre älteren Kameraden, der schon Lyrik publiziert hatte: „Als Dichter läufst du Gefahr, dich zu verlieren. Du musst schauen, dass du geerdet bleibst. Dafür musst du den Stolz ablegen und dich der Normalität des Arbeitslebens unterziehen.“
Eine ähnliche Warnung hatte der junge Poet Francis Giauque (gestorben mit 31 Jahren) dem Pruntruter Schulabbrecher > Hughes Richard gegeben: „Das Schreiben hat seine Gefahren. Nach einer gewissen Zeit wendet es sich gegen dich.“ Daraufhin machte Hughes Richard das Lehrerdiplom.
Dem Exerzitium der Demut hat sich ebenfalls der spätere Kunsthistoriker und Hodler-Spezialist > Jura Brüschweiler unterzogen. In seinen Jünglingstagen träumte er von einer Filmkarriere. Doch auf Rat des Schriftstellers André Kaminski arbeitete er zuerst einen Winter lang im Postbahnhof von Zürich: „Du musst das normale Leben kennenlernen!“ Die Arbeit erwies sich als dermassen hart, dass der zwanzigjährige Brüschweiler nachts wie gerädert ins Bett fiel. Da begriff er, warum die Unterschicht vom Kino nicht Kunst verlangt, sondern Ablenkung, und warum man sich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse einsetzen müsse.
Die ambitiösen Entwürfe der Jünglinge erinnern an den Ausspruch des späteren Romanautors Roland Donzé: „Es gibt zwei Arten von Arroganz: Die Arroganz der Dummheit und die Arroganz der Intelligenz. Die Arroganz der Dummheit ist ein Ärgernis; die Arroganz der Intelligenz ein Versprechen.“
Den Unterschied erkannte der junge Französischlehrer am Berner Kirchenfeld-Gymnasium. Die Schüler standen in voller Pubertät. Am ärgsten trieb es der Sohn eines Berufsoffiziers. Nachdem er eine Zwei im Zeugnis nach Hause gebracht hatte, verlangte der Vater eine Unterredung. Donzé, der als Sohn eines Arbeitslosen aufgewachsen war, erklärte: „Schauen Sie, es geht ihm zu gut. Wenn Sie ihn für ein Jahr in eine Lehre stecken, wird ihm ein Licht aufgehen.“ Der Oberst wurde nachdenklich. „Sie meinen...“ – „Ja, er muss erfahren, dass man zu einer bestimmten Zeit aufstehen muss und dass es darauf ankommt, ob man eine Sache so oder so macht. Er muss sehen, dass es andere, bedingt durch die Herkunft, schwerer haben als er. Sagen Sie ihm nicht, dass es sich bloss um ein Jahr handelt. Sagen Sie ihm, eine Berufsausbildung sei besser für ihn. Entweder stimmt’s, dann bleibt er dort, oder es stimmt nicht, dann kommt er zu uns zurück.“ Das Konzept leuchtete dem Vater ein. Er nahm den Sohn aus dem Gymnasium und liess ihn in der Maschinenfabrik WIFAG eine Lehre antreten. Nach einem halben Jahr meldete sich der Vater: Der Sohn sei wie verwandelt. Das Rezept habe gewirkt. Er habe beim Feilen von Eisenstücken gelernt, was Ausdauer und Genauigkeit hiessen. Noch ein halbes Jahr, dann komme er ans Gymnasium zurück. „Herr Donzé, ich danke Ihnen. Vive la Suisse!“
Alexandre Voisard stellten die Arbeitsjahre bei der Post nicht zufrieden. Aber er erwarb immerhin „jene mehr oder minder deutliche Ironie, mit der das Leben des einzelnen disparat dem Dasein jeder Gemeinschaft zu verlaufen beansprucht, in die er verschlagen ist“ (Walter Benjamin). Seine Ironie lag darin, dass er „disparat“ dem verordneten Dienst Gedichte schuf. Und siehe da: Hinter dem gleichförmigen Betrieb der Paket-, Brief- und Geldbeförderung, wo Alexandre Voisard bloss als auswechselbares, persönlichkeitsloses Rädchen zu funktionieren hatte, entstand etwas, das es vorher noch nicht gegeben hatte und das niemand anderes als er hatte hervorbringen können. Am Ende des Tages war es ihm (mit den Worten von Hanns Dieter Hüsch) vergönnt zu sagen: „Es ist mir, allerdings mit totalem Einsatz, gelungen, aus dem Nichts, nur mit der Phantasie, etwas aufzubauen, womit ich mir einen Namen gemacht habe, und zwar den meinen.“
Zu Hilfe kamen die Orts- und Zeitumstände. Als er nach Verlassen der Post und einem unsteten Bohemeleben in Genf mit dreissig Jahren nach Pruntrut zurückkam, brach die Jurafrage auf. Und damit die Frage der Verwurzelung. Für Alexandre Voisard bedeutete sie auf der persönlichen Ebene die Heirat mit Thérèse Laval und die Gründung einer Familie mit vier Kindern: „Vaterschaft war immer mein Wunsch gewesen.“ Dafür jobbte er jetzt und schaffte Geld her. Die Arbeit gab dem Tag eine existentielle Bedeutung. Daneben stellte er sein Talent in den Dienst des Separatismus. Das gab dem Schreiben eine politische Bedeutung.
Künstler, Dichter und Philosophen haben zweierlei Funktion: den innern Gehalt der Zeit und Welt ideal zur Anschauung zu bringen und ihn als unvergängliche Kunde auf die Nachwelt zu überliefern.
(Jacob Burckhardt)
Am Fest des jurassischen Volkes sprachen jetzt dreissigtausend Besucher Alexandre Voisards Verse nach:
J’ai dit Liberté
Et jamais plus mes frères
Ne paraferont la poussière des jougs.
(Ich habe Freiheit gesagt
Und nie wieder werden bei meinen Brüdern
Fesseln an den Gelenken rasseln.)
Alexandre Voisard schrieb sich zusammen mit > Jean Cuttat als „Poet der jurassischen Revolution“ (> Pierre-Olivier Walzer) in die Geschichte seiner Region ein. Der neugeschaffene Kanton Jura ernannte ihn zum Delegierten für Kulturfragen. Er gehörte zu den Grossen.
Der grosse Mann ist ein solcher, ohne welchen die Welt uns unvollständig schiene, weil bestimmte grosse Leistungen nur durch ihn innerhalb seiner Zeit und Umgebung möglich waren und sonst undenkbar sind; er ist wesentlich verflochten in den grossen Hauptstrom der Ursachen und Wirkungen.
(Jacob Burckhardt)