Hughes Richard: Dichter und Zimmer-Buchhändler.

12. Juli 1934 –

 

Aufgenommen am 8. September 1995 in Les Ponts-de-Martel.

Hughes Richard – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Hughes Richard ist ein Mensch der Dörfer. Aufgewachsen in Lamboing am Fuss des Chasseral (20 Dächer) hat er sich für den Rest seiner Tage in Les Ponts-de-Martel im Neuenburger Jura niedergelassen (30 Dächer). „Eine Zeitlang hatte ich mir vorgenommen, der letzte Dichter zu sein, der die Dörfer besingt“, erklärt der Sechzigjährige bei der Aufnahme für die „Plans-Fixes“. Doch inzwischen sind viele Dörfer zu Vororten degeneriert. Also bewegt sich Hughes Richard in der Welt des Geistes. Er zitiert aus dem letzten, seiner Frau gewidmeten Gedichtband „A toi seule, je dis oui“ (Dir allein sage ich ja) das letzte Haiku: „Alle Segel einziehen, jetzt wird innen gereist.“ <

 

Dass man es mit einem Dichter zu tun habe, merkt man schon an den ersten Sätzen. Hughes Richard drückt sich ungemein plastisch aus. Seine Sprechweise, die das Charakteristische einer Sache erfasst und zur Darstellung bringt, bewirkt, dass alles, worauf die Rede des Dichters fällt, wichtig – oder, wie Goethe gesagt hätte: bedeutend wird. Sogar der Weg zur Grossmutter, den das Kind in Lamboing erlebte, drei, vier Häuser weit, man denke!

 

Und hier liegt wohl das Geheimnis für die Kraft der dichterischen Rede. Der kindliche Blick wertet nicht. Er nimmt auf; und zwar in einer Haltung des Staunens und, ja, der Ehrfurcht. Damit treten dem Kind die Dinge mit ihrem ganzen Eigengewicht entgegen. Der Dichter hat diesen Blick bewahrt. Er sieht alles, als wär’s zum ersten Mal. Die Begegnung mit der Welt erfolgt für ihn ausserhalb der konventionellen Bedeutungssysteme, die zum voraus einordnen, was entgegenkommt.

 

Wenn es für die Wissenschaft keine Individuen gibt, sondern nur Fälle, an denen sich die oder jene Gesetzmässigkeit zeigt, so gibt es für den Dichter vom Schlag Hughes Richards nur Individuen, an denen er nicht die Gesetzmässigkeiten, sondern die Rätsel des Lebens erfährt.

 

Voltaire hat am Beispiel des Wilden, der als Huronenkind nach Paris kommt und dort erzogen wird, die Sache beschrieben. Die kurze Erzählung trägt den Titel „L‘Ingénu“ (der Naive):

 

Der Naive machte schnelle Fortschritte in den Wissenschaften, vor allem in der Menschenkunde. Die Ursache für die rasche Entwicklung seines Geistes lag fast ebenso sehr an seiner primitiven Erziehung wie an der Beschaffenheit seiner Seele. Denn da er in seiner Kindheit nichts gelernt hatte, hatte er auch keine Vorurteile gelernt. Sein Verstand war nicht durch Irrtum gebeugt worden, sondern blieb in seiner ganzen Geradheit erhalten. Er sah die Dinge so, wie sie sind, während die Ideen, die man uns in der Kindheit gibt, dazu führen, dass wir die Dinge unser ganzes Leben lang so sehen, wie sie nicht sind.

 

Milieu und Veranlagung führten Hughes Richard unter den gegebenen Umständen zu einer verhältnismässig „raschen Entwicklung seines Geistes“. Noch vor dreissig begann er zu schreiben, notgedrungen.

 

Zuvor war ihm aber das Erfahrungsreservoir kräftig gefüllt worden: Nach einer glücklichen Zeit am Progymnasium von Neuenstadt am Bielersee, wo ihm in der letzten Französischstunde vor den Ferien die Schönheit der Poesie aufgegangen war (der Lehrer hatte moderne Gedichte vorgelesen aus einer Anthologie [das Wort hatten die Schüler vorher noch nie gehört]) kam er, da er sich für keinen Beruf entschieden hatte, als Metzgerbursche nach Burgdorf (das famose Deutschschweizer Jahr, dem sich auch der Bauernsohn > Albert Munier unterzog), hielt dort den Anblick der bluttriefenden Fleischstücke auf dem Handkarren nicht aus, den er durch die Gassen ziehen sollte, lief deshalb weg, weit nach Frankreich hinein, begegnete dort einem Wanderzirkus, der ihn für den Kassendienst engagierte, lief wieder weg, wurde in der Nähe von Paris angehalten und im Schub in die Schweiz verfrachtet, wo er so gebeutelt ankam, dass er einwilligte, ins Lehrerseminar von Pruntrut einzutreten, doch vor der Diplomierung lief er dort wieder weg, um in Neuenburg gerade vor der Abreise nach Spanien seine „letzte Chance“ zu erhalten (so drückte sich der Schulinspektor aus, der ihn anrief): Eine Stelle an der Gesamtschule von Nods (einem Dorf mit vierzig Dächern neben Lamboing auf dem Tessenbergplateau), Bedenkzeit 48 Stunden. Hughes Richard sagte sich: „Du darfst nicht immer weglaufen. Du musst mal standhalten.“

 

Das Schulhaus stand auf freiem Feld. Im Erdgeschoss befand sich der Unterrichtssaal, oben die Lehrerwohnung. An diesem Ort blieb jetzt der junge Mann und machte sich in den leeren Stunden ans Schreiben. Der Anfang war nicht leicht. Ein Schulkamerad, der es schon zum Schriftsteller gebracht hatte (Francis Giauque, gestorben mit 31 Jahren), warnte ihn: „Das Schreiben hat seine Gefahren. Nach einer gewissen Zeit wendet es sich gegen dich.“ Doch Hughes Richard hatte als Ausgleich zum Schreiben die Kinder und das Schulegeben und nicht, wie Giauque, Alkohol, Medikamente und Drogen.

 

Am Ende wurde die Fron von Nods mit dem Lehrerdiplom belohnt. Mama war zufrieden, und der Sohn konnte endlich nach Paris. Obwohl sein Lieblingspoet Pierre Reverdy geschrieben hatte, es gebe in dieser Stadt zu viel Leute, um irgend jemandem begegnen zu können (il y avait trop de monde dans cette ville pour pouvoir y rencontrer qui que ce soit), begegnete Hughes Richard gleich Georges Haldas, der ihn weiterreichte und damit den Beginn seiner literarischen Ausbildung eröffnete.

 

Der Verlag Rencontre, an dem der Schweizer als Sekretär angestellt wurde, hatte sich vorgenommen, den Prix Goncourt zur Diskussion zu stellen. Dafür sollte eine prominente Jury noch einmal alle Titel beurteilen, die dem Wettbewerb vorgelegt worden waren, beginnend mit dem Jahr 1903, wo der erste Prix Goncourt an John-Antoine Nau vergeben worden war. Um die Bücher der damaligen Konkurrenten zu finden, musste Hughes Richard die Nationalbibliothek und die Bouquinisten aufsuchen, und bald wurde er in dieser Szene heimisch. Am Ende lebte er in Paris nicht anders als in einem Dorf: tagsüber in der Nationalbibliothek, nachts im Hotel.

 

Hughes Richard sagt: „Es gibt Forscher, die suchen, und Forscher, die finden. Ich gehöre zu denen, die finden.“ Seine Erfolge waren derart glücklich, dass er anfangen konnte, das Erbeutete in Büchern zu edieren und in Artikeln zu kommentieren. Vielleicht wäre er in Paris geblieben, wenn ihn nicht Krankheit und Erschöpfung in die Schweiz zurückgetrieben hätten. Als Dorfkind vermisste er nämlich in der Metropole immer stärker die reine Luft, den Geruch der Tannen, die nächtliche Stille. Es ging ihm dabei gleich wie dem Komponisten > Jean Daetwyler, der, von Paris herkommend, aus denselben Gründen in Siders hängenblieb.

 

„Jetzt habe ich meinen Rhythmus gefunden, im Wechsel zwischen dem Buchhandel, der mir Geld einbringt, und dem Schreiben, das mich erfüllt.“ Noch in der Nacht setzt sich Hughes Richard in Les Ponts-de-Martel weitab vom Getriebe an den Schreibtisch: „Ich liebe es, wenn die Morgendämmerung auf das mehr oder minder vollendete Blatt fällt. Dann trete ich ans Fenster und nehme den aufsteigenden Tag in mich auf. Dieser Moment ist geprägt von einer Stille, die nie vorübergehen sollte.“

 

Damit hat sich Hughes Richards Lebenskreis vollendet:

 

Werd ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch! du bist so schön!

Dann magst du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zugrunde gehn!

 

Goethe: Faust

 

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