Jean Daetwyler: Komponist.

24. Januar 1907 – 4. Juni 1994.

 

Aufgenommen am 10. Januar 1989 in Siders.

Jean Daetwyler – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Unter den Komponisten, die es in die „Plans Fixes“ geschafft haben, ist Jean Daetwyler der auskunftsfreudigste. Was er über sein Handwerk – bis in das letzte Jahrhundert hinein hätte man gesagt: über seine Kunst – kundgibt, ist erfahrungsgesättigt, anschaulich, exakt. Die gleiche Qualität haben seine Ausführungen, wenn er vom Dirigieren spricht, vom Unterwallis, seiner Topographie, seinem Licht, seinen Einwohnern, und vom Leben in Paris vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. <

 

Wenn der 82-jährige Musiker erklären soll, wie er zum Komponieren kam, braucht er fast dieselben Worte wie die 83-jährige Lyrikerin > Anne Perrier. Für sie war das Dichten eine naturgegebene Selbstverständlichkeit: „Ich frage auch nicht, warum ich zwei Arme habe.“ Und Jean Daetwyler sagt: „Kompo­nieren ist für mich so selbstverständlich wie das Atmen.“ Schon als Bub begann er damit, weil er das Selbstgeschaffene interessanter fand als die Lieder, die er in der Schule singen musste.

 

Nach einer kaufmännischen Lehre (dieses Fundament musste sein) schaffte es Jean Daetwyler mit zwanzig ans Conservatoire de Paris. Dort studierte er Komposition bei Vincent d’Indy, Guy de Lioncourt und Charles Koechlin, also den grossen Namen der Musikgeschichte. Und wie immer beim Lernen durch die Meister ging dem Schüler das Wesentliche nicht nur im Unterricht selbst auf, sondern auch im Nebenher der persönlichen Begegnung.

 

Martin Buber:

 

Es war eine Zeit, es waren Zeiten, wo es keine spezifische Berufung des Erziehers, des Lehrers gab und keine zu geben brauchte. Da lebte ein Meister, ein Philosoph etwa oder ein Erzschmid, seine Gesellen und Lehrlinge lebten mit ihm, sie lernten, was von seinem Hand- oder Kopfwerk er sie lehrte, indem er sie daran teilnehmen liess, aber sie lernten auch, ohne dass sie oder er sich damit befasst hätten, lernten, ohne es zu merken, das Mysterium des personhaften Lebens, sie empfingen den Geist. Wohl gibt es solches noch, in irgendeinem Mass, wo es Geist und Person gibt, aber es ist in den Bezirk der Geistigkeit, der Persönlichkeit verbannt, es ist Ausnahme, „Höhe“ geworden.

 

Doch bleibt der Meister das Vorbild des Lehrers. Jenes Fingerheben, jener fragende Blick, das ist sein echtes Tun.

 

Einmal legte Jean Daetwyler Vincent d‘Indy eine komplizierte Modulation vor, „um ihn zu beeindrucken, wie man das in dem Alter gerne macht“. Der Lehrer schaute lange aufs Blatt und fragte schliesslich: „Was soll das sein?“ „Ein Übergang von dieser Tonart in jene, das sieht man doch.“ „Nein. Wenn man es sähe, brauchten Sie es nicht zu sagen.“ – „Diese Lektion“, bekennt Jean Daetwyler, „hat mich fürs Leben geprägt“.

 

Vielleicht erklärt sich durch diesen Hinweis aufs Ungekünstelte die Verwendung folkloristischer Motive und Kompositionsweisen im Werk des Musikers. „Der Künstler schafft immer für seine Zeit“, erklärt er. „Auch wenn seine Zeit ihn noch nicht versteht, weil sie aus der Kenntnis von Werken urteilt, die dreissig, fünfzig, hundert Jahre zurückliegen.“

 

Jean Daetwyler zitiert die Totenrede, die der Rektor der Universität Leipzig am Grab von Johann Sebastian Bach gehalten hat: „Er sprach eine Viertelstunde über die Verdienste des Bürgers und die Arbeit als Lateinlehrer, aber kein Wort über die Musik.“ Und Mozart! „Der grösste Komponist seiner Zeit. Aber als er tot war, hat niemand darauf achtgegeben, wo er beerdigt wurde.“

 

Der 82-jährige fährt fort: „Da liegt der Vorteil, wenn man so alt wird wie ich. Nachdem lange niemand etwas von mir wissen wollte, werde ich seit zehn Jahren immer häufiger aufgeführt. Mit dieser Wiedergutmachung kommt die Balance meines Lebens ins Plus. Ich habe Glück. Schubert hat die meisten seiner Kompositionen nie gehört.“ Gleich ging es Mozart mit den letzten, kühnsten Sinfonien. Daetwyler hat immerhin erlebt, dass drei seiner sechs Sinfonien aufgeführt wurden.

 

Es geht dabei nicht ums Ego: „Der Komponist ist der einzige Künstler, der sein Werk nicht betrachten kann, wenn er es hervorgebracht hat. Der Maler legt den Pinsel ab, und das Bild steht vor ihm. Der Dichter legt die Feder weg, und er hat den Text vor Augen. Der Komponist aber erkennt erst, was er hervorgebracht hat, wenn er die Partitur hört. Und dafür ist er auf die Mitwirkung eines Orchesters angewiesen.“

 

Zwanzig Jahre habe er gebraucht, erklärt Jean Daetwyler, bis er an jedem Punkt wusste, wie das, was er niedergeschrieben habe, in der Aufführungs­wirklichkeit töne: „Ein junger Komponist kann dieses Wissen noch gar nicht haben.“

 

Diese Tatsache erklärt, warum Jos van Immerseel das Cembalo elektronisch verstärken musste, als er mit Anima Eterna zusammen 2008 Francis Poulencs „Concert champêtre“ im Concertgebouw Brügge spielte. Bei diesem Werk liess sich die lupenreine historische Aufführungspraxis, mit der sich die Musiker einen Namen gemacht hatten, nicht durchführen. Jos van Immerseel: „Das Orchester ist zu laut fürs Cembalo. Aber das konnte Poulenc beim Komponieren noch nicht wissen, dafür war er mit dreissig zu jung.“

 

Jean Daetwyler erkannte mit dreissig, dass sich der Zweite Weltkrieg abzuzeichnen begann. Lautsprecher übertrugen Hitler-Reden auf die Pariser Plätze. Die Franzosen schüttelten den Kopf: „Was soll das Gebell?“ Daetwyler aber schrieb den Eltern, er wolle in die Schweiz zurück. Ob sie etwas von einer freien Stelle wüssten. Sie schickten ihm den Ausschnitt einer Zeitung mit einem Chiffre-Inserat: „Kleine Stadt in der Westschweiz sucht Musikdirektor.“ Mit seinen Qualifikationen – sechs Diplome! – wurde Jean Daetwyler eingeladen, sich vorzustellen: „Die Reisekosten wurden rücker­stattet. Das war wichtig.“ Denn der Musiker hatte schon Familie: drei Kinder, eine Frau.

 

Als der Kandidat für die Leitung der städtischen Blaskapelle La Gérondine in Siders aus dem Zug stieg, umfing ihn das Unterwallis mit all seinen Reizen: Überwältigend war schon der Anblick der Schirmpinien auf dem Bahnhofplatz. Dazu kam die strahlende Sonne, nicht getrübt durch Industriedunst wie in Paris, und darüber wölbte sich ein klarer blauer Himmel, nicht ein milchig grau verhangener. Jean Daetwyler betrat das Paradies.

 

Und erst die Bevölkerung: „Die Menschen der Erde und des Weins haben ein feines Gespür für Authentizität.“ Durch ihr gerades Wesen und ihre Aufrichtigkeit fühlte sich Jean Daetwyler angesprochen: „Man weiss mit ihnen immer, woran man ist.“ Zu Herzen ging ihm auch der unverstellte Frohsinn der Walliser, besonders in der mystischen Zeitlosigkeit der Weinkeller. „Dort auf die Uhr zu schauen, ist ein Verbrechen. Wenn der Gastgeber das bemerkt, ruft er: ‚Ah, du langweilst dich. Geh!‘“

 

Jean Daetwyler erklärt: „Die Walliser sind Kelten geblieben. Die römische Besatzung – und die Soldaten waren ja keine Römer, die Römer blieben in Rom – also die Besatzer stiessen nicht bis in die Täler vor, sondern blieben unten an der Rhone. Im Gegensatz zu ihnen waren die Kelten Mystiker. Sie bauten keine Tempel. Ihr Tempel war der Wald. Und im Austausch mit der Natur entwickelten sie ein fatalistisches Verhältnis zur Gottheit. Bis heute nehmen die Walliser jede Unbill hin. So ist es halt, sagen sie. Wenn die Brücke weggeschwemmt wurde, bauen sie sie wieder auf.“

 

Die Sicht des Zugewanderten wird von der Einheimischen bestätigt. Im Buch von Marie-Magdelaine Brumagne erklärt die 77-jährige > Marie Métrailler, von der die „Plans Fixes“ auch ein Porträt festgehalten haben (es wurde aufgenommen am 17. September 1978 in Evolène und trägt die Nummer 7):

 

Es gibt ein natürliches Gleichgewicht, das die Menschen vergessen haben. Sie sind einfach dumm. Anstatt die Lektionen, die die Natur erteilt, zu beherzigen, zerstören sie sie nach Belieben, um jeden möglichen unmittelbaren Nutzen daraus zu ziehen. Aber die Natur kann auch zerstören. Es gibt Erdrutsche, Trümmer und Wirbelstürme. Das ist richtig. Gleichzeitig ist es falsch: Diese Kataklysmen sind eine Form des kosmischen Gleichgewichts, dessen Kosten wir tragen. Wir sollten dies besser berücksichtigen, keine Häuser auf gefährdeten Punkten der Erde bauen. Und wir sollten nicht blindlings mit der Atomkraft spielen ...

 

Woher aber könnte die Wende kommen? Jean Daetwyler:

 

Die Wohlhabenden sind für die Gesellschaft verloren. Es sind die Besorgten, die sie voranbringen.

 

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