Pierre Alain Tâche: Lyriker und Gerichtspräsident.

24. Oktober 1940 –

 

Aufgenommen am 12. September 2008 in Lausanne.

http://www.plansfixes.ch/films/pierre-alain-tache/

 

> An der Begegnung mit Pierre Alain Tâche kann man ablesen, was einen Dichter im klassischen Sinn ausmacht: Bescheidenheit, stille Introversion, staunendes Schauen und Horchen, Empfänglichkeit für die Anrede des Jenseitigen durch die Dinge. – Dass Pierre Alain Tâche daneben bis zur Pensionierung das Brot als Richter am Waadtländer Kantonsgericht verdient hat, wird in seinem Porträt nur knapp gestreift. <

 

Das Haus in Lausanne, stellt der Interviewer fest, ist voller Bilder. Ein Teil stammt von Pierre Alain Tâches Frau Claire Nicole, der andere Teil von befreundeten Künstlern. Im Film wird nicht thematisiert, ob die Bilder durch Kauf gewonnen wurden oder durch Tausch. Man müsste bei den Malern vorbeigehen, um zu prüfen, ob bei ihnen Gedichte an der Wand hängen wie im Haus Gottschalk. Dazu ist nämlich folgendes zu melden:

 

Im Zusammenhang mit der im Entstehen begriffenen historisch-kritischen Gesamtausgabe von Rainer Maria Rilke durch den Osnabrücker Germanisten Christoph König berichtete die «Süddeutsche Zeitung» am vergangenen Mittwoch (15.7.20): «Die kalifornischen Waldbrände von 2018 vernichteten annähernd 4000 Quadratkilometer Land an der amerikanischen Westküste. Nebenbei lieferten sie aber auch ein unschönes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, sich einen Überblick über alle Schriften Rainer Maria Rilkes zu verschaffen. Denn damals verbrannte auch die Villa des Entertainers Thomas Gottschalk in Malibu, und mit ihr ein bedeutendes Rilke-Manuskript. Gottschalks Frau gelang es zwar, Katzen und Katzentoilette zu retten, doch das Autograph des vielleicht berühmtesten Rilke-Gedichts ‹Der Panther›, das in Malibu an der Wand gehangen hatte, wurde ein Raub der Flammen. ‹Dieses Blatt war nirgends registriert›, sagt Christoph König. ‹Wir erfuhren erst davon, als es schon vernichtet war.›»

 

Vielleicht kann dieses Schicksal jedoch Pierre Alain Tâches Werk nicht bedrohen, weil es nicht auf dem Papier, sondern im Computer entstanden ist, gleich wie die Essays des «Dialogs mit Abwesenden». Dort sind die Texte «gesichert» in einem Sinn, auf den kein früherer Dichter je gekommen wäre, so wenig, wie er gedacht haben könnte, dass «Cloud» ein Synonym für «Ewigkeit» werden könne.

 

Wie es sich nun mit Pierre Alain Tâches Schreiben konkret verhält, verrät der Film nicht. Das Handwerkliche ist kein Thema in der Unterhaltung, die Charles Sigel für die «Plans Fixes» mit dem Lyriker geführt hat. Mit dem Verzicht aufs Konkrete der Produktion aber verläuft das Gespräch über Poesie nun gleich abgehoben wie eine mündliche Maturaprüfung im Fach Literatur.

 

Viele, viele Namen fallen. Sie bilden ein Referenzsystem, das nur demjenigen etwas sagt, der mit diesen Namen etwas anfangen kann. Das dürfte westlich der Linie Nizza–Genf–Strassburg schwierig werden. Denn in der Grande Nation stehen regionale Dichter nicht hoch im Kurs.

 

Was Pierre Alain Tâche über Lyrik zu sagen hat, deckt sich bis in die Einzelheiten der Formulierungen hinein mit Goethes Ansichten über die Begriffspaare Augenblick und Ewigkeit, Besonderes und Allgemeines, Kreatürliches und Gedankliches. Vermutlich liegt das daran, dass ein Text erst dann «bedeutend» wird (wie Goethe gesagt hätte), wenn er sich zur symbolischen Lektüre eignet. Für den Weimaraner wie für den Lausanner Dichter gilt bei der Hervorbringung von Gedichten offenbar: «Das unmittelbar sichtlich Sinnliche dürfen wir nicht verschmähen, sonst fahren wir ohne Ballast.» Das schrieb der 78-jährige Goethe 1827 in einem Brief.

 

Bei der Aufnahme mit Pierre Alain Tâche im Jahr 2008 «verschmäht» Charles Sigel indes genau die Erkundung dieses «unmittelbar sichtlich Sinnlichen», und das macht seine Unterhaltung «leicht» im Sinn von «abgehoben» und «verblasen».

 

Pierre Alain Tâche ist nicht der einzige Jurist im französischen Sprachraum, der sich aufs literarische Schreiben verlegt hat. Auf der anderen Seite des Genfersees, in Thonon-les-Bains, schuf der Advokat Henry Bordeaux (1870–1963) ein Romanwerk von 43 Titeln. Es brachte ihn 1919 in die Académie française. Auflagen von 500’000 Exemplaren waren keine Seltenheit. Die Übersetzung der Bücher in verschiedene Sprachen, darunter das Japanische, vergrösserte sein Ansehen. Henry Bordeaux gehörte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu den populärsten Autoren Frankreichs. Heute ist sein Name vergessen.

 

Gleich ging es Virgile Rossel (1858–1933). Der Bauernsohn aus Tramelan im Berner Jura wurde mit 25 Jahren Jusprofessor an der Universität Bern, mit 54 Jahren Bundesrichter in Lausanne. Seine Neufassung des schweizerischen Zivilgesetzbuchs (in Kraft getreten 1912) hielt fünfzig Jahre und ist in den Grundzügen noch heute gültig. Neben der Tätigkeit als Professor, National­rat, Bundesrichter und Universitätsrektor verfasste Virgile Rossel 35 literarische Werke: Gedichtbände, Dramen, Erzählungen – darunter, 1931, einen feministischen Roman unter dem Titel: «Ce que femme veut...» (Was die Frau will ...). Heute ist Virgile Rossels Name vergessen.

 

So geht es auf der Welt: «Man gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind; also auch derer, so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die hernach sein werden.» (Prediger 1, 11) Und gleichwohl – oder vielleicht gerade deswegen, wie unser Deutschlehrer Werner Hadorn (auch er vergessen) zu sagen pflegte  – publiziert der 79-jährige Pierre Alain Tâche bis heute weiter. Im laufenden Jahr 2020 kam in Vevey bei den Éditions de L’Aire der erste Teil der «Carnets» unter dem Titel «Champ libre I» heraus. Aber schon vor über zweitausend Jahren hob der Prediger Salomo den Finger: «Mein Sohn, lass dich warnen! Des vielen Büchermachens ist kein Ende.» (12, 12)

                                                  

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