30. Dezember 1934 –
Aufgenommen am 16. Oktober 2024 in Sainte-Croix.
Paul Schneider – Association Films Plans-Fixes
> Paul Schneider kam im Emmental als Kind des Dorfarzts von Signau zur Welt und wurde seinerseits Arzt am Bezirksspital von Sainte-Croix oben auf der vordersten Jurakette. „Die Frage der Berufswahl stellte sich nicht“, erklärt er. Über Menschen wie ihn sagt die Typenpsychologie: „Sie entwickeln häufig sehr früh klare Lebensziele, die sie dann höchst konsequent verfolgen und zumeist auch realisieren können. Es fällt ihnen schwer, sich einer Beschäftigung zu widmen, die nicht im Dienst eines übergeordneten Ziels steht.“ So erscheint Paul Schneider jetzt auch im Film, den die „Plans Fixes“ mit ihm gedreht haben. <
„Die Zivilisation geht zugrund“, platzte Tom heftig heraus. „Ich bin zu einem schrecklichen Pessimisten geworden. Hast du ‚The Rise of the Colored Empires’ (Der Aufstieg der farbigen Weltreiche) von diesem Goddard gelesen?“
„Nein“, antwortete ich, ziemlich überrascht von seinem Tonfall.
„Nun, es ist ein gutes Buch, das jeder lesen sollte. Die Idee dahinter ist, dass die weisse Rasse, wenn wir nicht aufpassen, völlig untergehen wird. Das ist alles wissenschaftlich fundiert und bewiesen.“
„Tom wird sehr tiefgründig“, sagte Daisy mit einem Ausdruck von gedankenvoller Traurigkeit. „Er liest anspruchsvolle Bücher mit langen Wörtern. Was war das Wort, das wir –“
„Nun, diese Bücher sind wissenschaftlich“, beharrte Tom und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. „Der Kerl hat das Ganze ausgearbeitet. Es liegt an uns, die wir die dominante Rasse sind, aufzupassen, sonst übernehmen diese anderen Rassen die Kontrolle.“
„Wir müssen sie besiegen“, flüsterte Daisy und zwinkerte wild in Richtung der glühenden Sonne.
Tom bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
„Die Idee ist, dass wir Nordländer sind. Ich bin es und du bist es und du bist es und –“ nach einem winzigen Zögern schloss er Daisy mit einem leichten Nicken ein, und sie zwinkerte mir zu. „– und wir haben all die Dinge hervorgebracht, die eine Zivilisation ausmachen – oh, Wissenschaft und Kunst und all das. Verstehst du?“
Das war vor hundert Jahren. Der amerikanische Schriftsteller F. Scott Fitzgerald schilderte 1925 in seinem grossen Roman „The Great Gatsby“ die Konversation in einem herrschaftlichen Anwesen auf Long Island.
Hindert Jahre danach kam es gestern Abend in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens zu diesem Bericht:
Rechtsextreme fordern in Wien „Remigration“.
Rechte Aktivisten aus ganz Europa haben sich in Wien getroffen.
Das Motto des Aufmarsches war „Information und Aufklärung der Passanten über die Wiener Asyl- und Migrationspolitik“. Konkret forderten die Demonstranten „Remigration“; ein gross angelegtes Projekt zur ethnischen Homogenisierung Österreichs. „Es geht dabei darum, in grossem Stil Menschen, die man zu Fremden erklärt hat, ausser Landes zu schaffen“, wie es Bernhard Weidinger vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) formuliert.
Hoch auf der Jurakette steht Dr. med. Paul Schneider, Chirurg FMH und früherer Chefarzt des Bezirksspitals von Sainte-Croix, auf der anderen Seite.
Über Leute wie ihn sagt die Typenpsychologie: „Sie entwickeln häufig sehr früh klare Lebensziele, die sie dann höchst konsequent verfolgen.“ In der christlichen Studentenschaft lernt Paul Schneider seine Frau kennen. Sie schenkt ihm vier Kinder. 1979 nimmt das Paar noch zwei Waisen aus Kambodscha auf. Heute umfasst der Nachwuchs 13 Grosskinder und 5 Urgrosskinder.
Nach Antritt des Ruhestands betätigt sich Paul Schneider von 2000 bis 2004 im Rat des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds. 2006 wird er Mitbegründer der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht. 2019 hilft er eine Vereinigung vom Ärzten gründen, die sich für die Menschenrechte in der Asylpolitik einsetzen:
MASM (Médecins-action-santé-migrants)
Wir sind Zeugen von grossem Leid der entwurzelten heimatvertriebenen Menschen, Frauen, Männer, Kinder; wir sind ihnen in unserer ärztlichen Tätigkeit begegnet.
In Kenntnis dieser Notlage können wir, Ärztinnen und Ärzte, Bürger unseres Landes, nicht schweigen, sonst sind wir mitschuldig.
Unser Zeugnis soll ihnen eine Stimme geben, denn sie werden nicht gehört. Wir verstehen uns als Wächter, damit unsere Mitbürgerinnen und Bürger nicht einschlafen, mit einem falschen ruhigen Gewissen – als ob dieses Drama sie nichts angehe.
Zu den Gründern von „Médecins-action-santé-migrants“ gehört der Psychiater und Psychotherapeut Dr. med. Nicolas de Coulon, Gatte von > Graziella de Coulon:
Meine Frau Graziella hatte mir den Weg gewiesen, indem sie sich unermüdlich im Asylbereich für die Anerkennung der Rechte und die konkrete Hilfe für Migranten einsetzte. Eine meiner Töchter, Giada, folgte diesem Weg mit ihrem Ethnologiestudium und schrieb im Bereich Migration eine Dissertation über die „reglementierte Illegalität“. Darin beschreibt sie die paradoxe Situation, die ein subtil ablehnendes System geschaffen hat. Es macht diejenigen krank, die bereits unter den Folgen traumatischer Ereignisse leiden, die sie in die Schweiz geführt haben.
Diese Ausführungen zeigen: Den Aktivisten im weissen Kittel „fällt es schwer, sich einer Beschäftigung zu widmen, die nicht im Dienst eines übergeordneten Ziels steht. Man sagt ihnen nach, dass sie nicht nicht führen können. Durch ihr bestimmendes Wesen und das klare Ziel, das sie verfolgen und unbedingt erreichen wollen, fangen sie automatisch an, alles und jeden um sie herum so zu organisieren, dass es ihrer Zielerreichung nützt.“
So entfährt Jean Poget, dem Gesprächsleiter, während der Aufnahme mit Paul Schneider der Zwischenruf: „Schon wieder Chef!“ Der alte Arzt nickt belustigt: „Chef! Als das wurde ja nach Sainte-Croix gewählt. Und als Chef habe ich zwischen 16 und 19 Jahren bei den Pfadfindern Führer ausgebildet. Im Militär war ich übrigens Hauptmann.“
Leute wie Paul Schneider, sagt die Typenpsychologie,
.... brauchen eine Arbeit, bei der sie möglichst unabhängig sind und ihre kreativen Problemlösungen entfalten können. In Führungspositionen laufen sie zu Hochtouren auf, weil sie die Freiheit haben, ihre Ideen nach ihren Vorstellungen umzusetzen. Sie haben den Anspruch, nicht nur ihre eigenen Fähigkeiten, sondern auch die ihrer Mitarbeiter möglichst gewinnbringend einzusetzen. Sie haben zumeist einen guten Blick dafür, wo die Stärken und Schwächen ihrer Mitarbeiter liegen. Sie sind Meister darin, ihre Mitarbeiter so einzusetzen, dass jeder sein Bestes zur Zielerreichung beitragen kann.
Paul Schneiders „kreative Problemlösungen“ führen dazu, dass er mit seinen Mitarbeitern ein Spitalmodell entwickelt, das seiner Zeit weit voraus ist. Es hat zur Folge, dass Sainte-Croix als einziges von 33 bedrohten Kreisspitälern im Kanton Waadt nicht geschlossen wird. Dafür kommt auf der vordersten Jurakette schon ein Jahr vor dem Universitätsspital Lausanne die Roboterchirurgie zum Einsatz. „Es ist eine Frage der Umgewöhnung“, erklärt der pensionierte Chefarzt. „Wie beim Autofahren schaut man nicht auf die Hände, sondern geradeaus auf das Bild, das sich vor einem abzeichnet.“
„Kreative Problemlösungen“ half Paul Schneider auch entwickeln, als es darum ging, Sainte-Croix zu retten. Leute wie er „arbeiten nicht gern allein in ihrem stillen Kämmerlein, sondern umgeben sich lieber mit Menschen“. Gemeinsam mit dem Chansonnier > Michel Bühler organisierte er den Wiederaufschwung des Dorfs nach dem Zusammenbruch der grossen Unternehmen Paillard (Kameras), Thorens (Plattenspieler), Hermes (Schreibmaschinen). „Heute sind wir kein Indianerreservat mehr“, stellt der 89-Jährige befriedigt fest.
Ein Bekannter bemerkte: „Du ziehst lieber vorn, als hinten dem Zug nachzurennen.“ Der ganze Mann, schrieb Heimito von Doderer dazu vor hundert Jahren über Paul Schneiders Art ...
schien irgendwie seitwärts zu stehen, aber mit erheblicher Kraft. Man spürte sie; man empfand so etwas wie einen Stau von dieser Kraft her. Merkwürdig genug: sie kontrollierte.
Ohne Zwang gibt’s keine Freiheit, sagte er. Nur muss einer den Zwang selbst machen, dann ist er frei.
Ich bin damals in meinem Unglück – es war wirklich ein Unglück für mich, der Militärdienst – auf dem Eskadrons-Hof gestanden. Es war am Abend, im Sommer, der Himmel war noch rot. Ich hätt’ weg gehen können, ich glaub’ gar, ich hab’ einen Zettel gehabt zum Ausbleiben bis Mitternacht. Plötzlich, da kommt mir das so in den Sinn: es ist ein Gefängnis. Ich denk’ mir: gehst weg. Ich denk’ mir: wenn’st weg gehn kannst – na, dann kannst ja auch da bleiben. Setz’ dich auf das Bankel vor der Ubiquation, dem Wohngebäude, heisst das. Ich hab’ mir vorgestellt: wenn einer in einem Kammerl eingesperrt ist, und er rennt nicht die ganze Wand entlang hin und her, sondern nutzt nur den halben Raum, dann ist er doch auf irgendeine Art schon frei. Also, ich bin in der Kasern geblieben und auf dem Bankl vor der Ubiquation gesessen. Und allmählich, an demselbigen Abend, wendt sich die Sach um in mir, als würd’ ich leicht frei von der ganzen Anschafferei [Kommandostruktur], wenn ich ihr davonlaufen tät, in der Weise, dass alles schon getan wär’, was man mir würd’ anschaffen [kommandieren] wollen: dass ich dem voraus wär’. Ich, für meinen Teil, bin auf die Art so etwas wie ein Muster-Soldat geworden, obwohl ich das Militär nicht gut hab’ leiden mögen. Aber es war nur ein Anfang, ich bin ja nicht ewig beim Militari geblieben; danach aber auch jeder Anschafferei weit voraus. Da kann’s dir so gehn, dass dich schon lang nix mehr im Rücken pufft, soweit bist voraus, drehst dich um, nix ist mehr hinter deiner: du bist ein freier Mensch worden.