Jean Louis Claude: Der kleine Neurotiker.

5. Juni 1942 –

 

Aufgenommen am 12. September 2014 in Lausanne.

http://www.plansfixes.ch/films/jean-louis-claude/

 

> Jean Louis Claude war Verdingkind und Lokalradiopionier, Missbrauchsopfer und Strichjunge, Betreiber von Kulturhäusern und entflohener Sträfling. Er war medikamentensüchtig und gemütskrank. Aber nach jedem Unglück hatte er die Kraft, neu anzufangen. Damit bestätigt seine Biografie das Wort des norwegischen Psychologen und Drehbuchautors Roland Zistler: «Leben ist an sich schon eine Leistung.» <

 

Seinem Versgedicht über «Huttens letzte Tage» schickte Conrad Ferdinand Meyer ein berühmt gewordenes Motto voraus: «... ich bin kein ausgeklügelt Buch, / Ich bin ein Mensch mit seinen Widerspruch …»

 

Widersprüchlichkeit prägt auch das Leben von Jean Louis Claude. Bei seinem Eintritt in die Welt hat sich der Vater schon aus dem Staub gemacht. Nun setzt die Mutter das Kind aus. So lernt der Kleine am entscheidenden, alles prägenden Anfang nicht Geborgenheit, Fürsorge und elterliche Liebe kennen, sondern den wackeligen institutionellen Familienersatz in seiner ganzen Bandbreite.

 

An der ersten Erziehungsstätte erfährt das Kind die Zuwendung einer Bezugsperson, und es blüht auf. «Das hat mir Selbstvertrauen gegeben», sagt der 72-jährige dankbar im Gespräch mit den «Plans Fixes». Doch zur Widersprüchlichkeit seines Schicksals gehört, dass er 1948/49 an eine Bauernfamilie verdingt wird.

 

Die Verhältnisse, in denen er da lebt, unterscheiden sich in keiner Weise vom Elend, welches Albert Bitzius 1837 in seinem Erstlingsroman geschildert hat: «Der Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, von ihm selbst beschrieben». Jean Louis Claude wird auf seinem Schreckenshof in solchem Mass von Trostlosigkeit und harter Unmenschlichkeit heimgesucht, dass sein Schlaf bis heute gestört ist.

 

Immer sind da diese Bilder: Er liegt auf einem Spreusack, zugedeckt von leeren Säcken. Sobald er die Augen schliesst, klettern Ratten über ihn hinweg. Der Sechsjährige nässt und kotet in die Schlafstätte. Damit ist für die Bauersfrau seine Bösartigkeit erwiesen. Am Morgen wird er in den Stall genommen und aus dem Gummischlauch zur Säuberung mit kaltem Wasser abgespritzt. Dann kommt er in die Schule. Hier entdeckt der Lehrer an seinem Hals blutige Striemen und schaltet die Behörden ein.

 

Ein klösterliches Internat im Kanton Freiburg nimmt den Jungen für die Mittelschulzeit auf. Er ist aufgeweckt und wissbegierig. Die Patres nähren seinen Intellekt und bringen ihn liebevoll weiter – ja, genaugenommen zu liebevoll. – Und wieder ist da diese Widersprüchlichkeit: Jean Louis ist seinen Lehrern dankbar für das Wissen, das sie ihm beibringen, und dankbar für die Entfaltung von Geist und Seele, die er dadurch erfährt. Zugleich verabscheut er die Taten, die die Hände der Ordensmänner an seinem Körper vornehmen.

 

Trotzdem kennt Jean Louis Claude mit 16 nur den einen Wunsch: selber Priester zu werden. «Aber das war nicht möglich», sagt er im Film und bricht ab. «Auch Lehrer nicht …» Beim Weitersprechen deckt er auf: Er hatte Angst, sich nicht beherrschen zu können und seinerseits als Erzieher die Zöglinge zu missbrauchen. Denn er ist schwul bis in die Knochen. Das ist ihm klar geworden, als er fünf Jahre mit einer Frau zusammen lebte, die ihn umzupolen suchte.

 

So wird eine weitere Flucht fällig. Jean Louis Claude bricht auf nach Paris, als Geliebter eines Filmschauspielers, der um ihn geworben hat. An der Seine aber vögeln die beiden in alle Richtungen. Widersprüchlichkeit auch hier. Einerseits lernt Jean Louis Claude in der enthemmten Geschlechtlichkeit, «endlich sich selbst zu sein», anderseits kommt das Immunschwäche-Virus auf. Es beginnt, die Schwulen zu zeichnen und bald auch wegzuraffen.

 

Doch immer ist da das Schreiben. Mit Lyrik versucht Jean Louis Claude, sich mit der Welt zu versöhnen – und die Welt mit ihm. Denn er blieb kein unbeflecktes Blatt. Im Arzneimittelrausch drehte er ein Ding, kam dafür in die Strafanstalt, büxte aus, wurde am selben Abend wieder eingefangen, erlebte dann die Internierung in psychiatrischen Kliniken, Depressionsschübe und Tiefschlaf-Kuren, und während er vor laufender Kamera vom dramatischen Auf und Ab erzählt, das sein Leben prägte, weiss er, dass er immer noch auf schwankendem Boden steht.

 

Wenn Jean Louis Claude von der Bedrohung spricht, die jederzeit wieder über ihn hereinbrechen kann, redet er wie der arme Pfarrer in Adalbert Stifters «Kalkstein»: «Es kann heute sein, es kann morgen sein, es kann noch viele Jahre dauern». Doch in der Meistererzählung weiss der fromme Mann: «Wir stehen alle in Gottes Hand.»

 

Heute ist es Jean Louis Claude versagt, die Welt in Gott zu sehen. Da liegt vielleicht das grösste Elend.

 

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