Michel Mermod: Von der Schiffahrt zum Humanitären.

8. Juli 1936 –

 

Aufgenommen am 10. September 2004 in Farges (Ain) Frankreich.

http://www.plansfixes.ch/films/michel-mermod/

 

> Es gibt Leben, die lassen sich in einer Stunde erzählen (manchmal, leider, auch in weniger). Michel Mermod – obwohl sichtlich um Raffung und Kürze bemüht – gelingt das eher schlecht. Denn er hat nicht ein einziges Leben geführt, sondern deren vierzig. Ein paar wurden ihm vom Schicksal geschenkt, indem es ihn dem sicheren Tod entrinnen liess. Bei den anderen setzte er selbst den Neuanfang. <


Ein neues Leben beginnt man durch Bruch mit dem alten. Manchmal unfreiwillig. Michel Mermod hat zum ersten Mal lernen müssen, ein neues Leben zu führen, als die Mutter starb. Weil sich der blinde Vater nicht um ihn kümmern konnte, kam der kleine Bub zu den Grosseltern. Doch nach kurzer Zeit starben auch sie. Da wurde er noch einmal weitergereicht. Bei Onkel und Tante wuchs er dann in der ländlichen Einsamkeit des Val d’Ormont heran.

An der Strasse, die von Aigle zum Col du Pillon hinaufführt, lernte er dreierlei fürs Leben: 1. Mit sich selber auskommen. 2. Die Nahrung aus der eigenen Tatze ziehen wie der Bär im Emblem des Bärenreiter-Verlags. 3. Mit der aussermenschlichen Umgebung so umgehen, als sei sie nicht Bühnenbild oder Podium, sondern belebtes Gegenüber. Damit entwickelte Michel Mermod zur Welt ein Ich-Du-Verhältnis im Gegensatz zum Ich-Es-Verhältnis unserer technizistischen bzw. narzisstischen Ausbeutung.

Mit dieser „Einstellung“ (wie der Volksmund zutreffend sagt) trat er aus dem Tal in die Welt. Von Anfang an war die Fahrt dabei geprägt von den Komponenten Selbstbehauptung und Austausch (mit Menschen und Verhältnissen). Als kaufmännischer Lehrling kam er ans Mittelmeer (eine Enttäuschung: „Wie der Genfersee.“) und dann, per Autostopp, an die Nordsee. Bei diesen Probestücken erkannte er, dass er’s konnte – nämlich: sich selbst durchzubringen bis zum Ziel.

 

Damit war, bei Erreichung der Mündigkeit, der Plan gefasst: Reise vom Nordkap ins Feuerland, und zwar aus eigener Kraft! Im Norden mit dem Kanu, im Süden mit der Piroge. Gesagt, getan. 

 

An der Linie seiner Reise beginnen sich die verschiedenen Leben zu entfalten und Michel Mermod von Station zu Station umzugestalten. Denn um sich weiterzubringen, muss er zwischendurch arbeiten. Das führt ihn mit Menschen zusammen – und mit Verhältnissen, die oft nicht viel weniger hart und lebensbedrohlich sind als die einsame Fahrt auf dem Wasser.

 

Im Norden arbeitet er bei vierzig Grad Kälte vor einer Mine. Später wird er befördert in deren Inneres. Doch auch dort ist die Arbeit hart. Michel Mermod muss mitansehen, wie ein Freund, Ulrich, ein gleichaltriger Deutscher, von einem Minenwagen zerquetscht wird.

 

An einem andern Ort verbringt er den Winter in einer Farm, zu einem Hungerlohn. Der tägliche Einsatz dauert von sechs Uhr früh bis neun Uhr abends. Sie leben dort nur zu dritt. Der Bauer, ein Appenzeller, hat als Knecht angefangen. Als der Bauer starb, heiratete er die verwitwete Bäuerin. Und jetzt lebt Michel als Knecht mit unter dem Dach. Aus diesem Szenario sind Filme und Theaterstücke entstanden …

 

Eine eigentümliche Dialektik prägt Michel Mermods Leben, bestimmt durch die Pole „sich einlassen“ und „sich entziehen“. Durch diesen Wechsel kommt er weiter und weiter. Für die „Plans Fixes“ kann Michel Mermod die Stationen nur streifen. Jede einzelne würde einen Band in der Bibliothek seines Lebens füllen. Und dort könnte man die Antwort nachlesen auf die Fragen: Wie kamst du hinein? Wie erging es dir darin? Und wie kamst du wieder heraus?

 

Was er erlebt hat, beschreibt er ab dreissig in Büchern. Damit tritt zum Erlebnis die Reflexion. Und zwar nicht nur über sich und die Welt, sondern auch – und da liegt das Entscheidende – über den Wandel. Michel Mermod setzt in der Schweiz sein Soziologiestudium fort. Er lernt seine Frau kennen. Sie ist bereit, ihm auf die Reise zu folgen. Nun entstehen die Bücher gemeinsam;  Viviane ist Journalistin. 

 

In Tahiti ist Michel verwirrt. Irgendetwas hat sich seit seinem ersten Besuch verändert. Er braucht ein paar Wochen, um draufzukommen: Die Menschen lachen nicht mehr! Diese Erkenntnis schärft fortan den Blick der beiden Reisenden, und ihre „Einstellung“ wird immer kritischer. Zusammen verfassen sie am Ende einen Bestseller, der aufrüttelt: „Die Welt im Wellental“ (Le Monde au creux de la vague).

 

Die Ereignisse haben Michel Mermods Lebensplan verändert: Er reist jetzt nicht mehr für sich, sondern für die andern. Seine Erfahrungen und sein Ruf befähigen ihn, humanitäre Mandate zu übernehmen: fürs Internationale Rote Kreuz, fürs Aussendepartment, für NGOs. Doch mit der Zeit erkennt er, dass Entwicklungshilfe, Krisenhilfe, Gefangenenhilfe, Flüchtlingshilfe, Katastrophenhilfe nicht viel mehr sind als Alibiübungungen, um die Notwendigkeit echter Problemlösung zuzudecken.

 

Am Ende läuft Michel Mermods grosser Lebensbericht auf die Frage zu: Warum? Die Hilfe wächst und wächst, und trotzdem geht es der Welt und den Menschen immer schlechter: „Malgré l’aide apportée la misère grandit, pourquoi?“ 

 

Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss:

Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss.

Der Vorhang zu und alle Fragen offen.

Was könnt die Lösung sein?

Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?

Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?

 

Bertold Brecht: Der gute Mensch von Sezuan

 

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