Marianne Huguenin: Von Wurzeln und Überzeugungen.

1. Mai 1950 –

 

Aufgenommen am 16. Dezember 2016 in Renens.

Marianne Huguenin – Association Plans Fixes

 

> Kompetent, aber unfassbar. Das ist der Eindruck, den Marianne Huguenin im Porträt der „Plans Fixes“ hinterlässt. Die Frage nach den unausgesprochenen Gründen ist deshalb spannender als das, was sie sagt. <

 

1969, mit 19 Jahren, tritt Marianne Huguenin in die kommunistische Partei des Waadtlands ein, um sie nie mehr zu verlassen. Als Mitglied des Parti ouvrier et populaire (POP) sitzt sie von 1981 bis 1996 im Gemeindeparlament von Renens, einer Arbeiterstadt in der Nähe von Lausanne mit 20’000 Einwohnern und einem Ausländeranteil von über fünfzig Prozent.

 

Parallel zur politischen Tätigkeit führt sie von 1987 bis 2004 am Ort eine allgemeinärztliche Praxis. In der städtischen Exekutive verwaltet sie zwischen 1996 und 2006 zuerst die Finanzen, dann das Soziale. Von 2006 bis 2016 amtet sie als Stadtpräsidentin.

 

Neben der lokalen engagiert sich Marianne Huguenin auch auf der kantonalen und eidgenössischen Ebene: Von 1988 bis 1995 präsidiert sie den Waadtländer POP. Sie ist Mitglied des Waadtländer Grossen Rats von 1990 bis 1999 und Mitglied des schweizerischen Nationalrats von 2003 bis 2007. Dann übergibt sie – als einzige ihrer Partei für eine weitere Periode bestätigt – den Sitz zugunsten des zweitplazierten > Josef Zysiadis, dem die Wiederwahl nicht gelungen war.

 

Mit den Stichworten „Ärztin“ und „Politikerin“ ist Marianne Huguenins Undurchdringlichkeit schon gegeben, wenn man Eric Bernes Darlegungen folgen will, die er in seinem „Führer zu Psychiatrie und Psychoanalyse“ für den Penguin-Verlag verfasst hat (A Layman’s Guide to Psychiatry and Psychoanalysis). Der Begründer der Transaktionsanalyse erklärt, dass bedingungslose Offenheit (intimacy) „fast nie in der Psychotherapie oder in sozialen Gruppierungen anzutreffen ist“.

 

Die Gründe sind nachvollziehbar. Die Psychotherapie ist, wie die medizini­sche Konsultation, ein künstliches Setting. In ihr begegnen sich nicht zwei Menschen mit der offenen Frage: „Was wollen wir in der uns geschenkten Zeit miteinander vornehmen?“, sondern es kommen die definierten Rollen Arzt und Patient mit dem definierten Ziel „Heilung“ zusammen. Der Austausch zwischen den Beteiligten ist deshalb festgelegt und fachlich geregelt. Es geht nicht um das spontane, gegenseitige Erlebnis des andern, sondern um die Ergründung lediglich einer Person: der leidenden. Sie muss sich entblössen. Das Gegenüber bleibt bedeckt.

 

Auch der Politiker gibt sich nicht spontan „hinein“, er tut nur so. Denn hinter allem, was er ausspricht, steht für ihn wie für den Arzt das oberste Prinzip „primum nil nocere“ (Zuerst: Nicht schaden!): Nicht der Partei schaden, nicht der Wiederwahl schaden, nicht den langfristigen Zielen schaden (den ausgesprochenen wie den unausgesprochenen). Das führt beim Politiker zu diplomatisch ausweichendem Verhalten.

 

Schon Goethe, immerhin Weimarischer Staatsminister und Geheimrat, hielt in „Dichtung und Wahrheit“ fest: „Der Mensch, indem er spricht, muss für den Augenblick einseitig werden, es gibt keine Mitteilung, keine Lehre, ohne Sonderung.“ Eine Sprache, die klare Positionen ausdrückt, „sondert“ also – und macht damit viele abspenstig: alle, die nicht von der Partei sind, alle, die anders denken. Daraus lässt sich folgern: Je klarer, desto sektiererischer. Und je sektiererischer, desto anfechtbarer.

 

Damit lässt sich auch erklären, warum die meisten Politiker – wenn sie nicht in der Opposition stehen – einen möglichst nichtsagenden Sprachstil pflegen. Wenn ihnen ein Vorschlag unterbreitet wird, sagen sie nicht Njet!, auch wenn sie es denken, sondern: „Das ist interessant. Ich nehme es gerne entgegen. Sie hören von mir [am Sankt-Nimmerleins-Tag].“ Hauptsache ist: „Keine Wellen!“ (berndeutsch: „Keni Lämpe!“). Manches regelt sich von selbst. Man braucht es nur unter dem Deckel zu halten und auszusitzen (Methode Kohl, Methode Chirac, Methode Merkel).

 

Als Ärztin, Kommunistin und Politikerin verwendet nun Marianne Huguenin in der Aufnahme für die „Plans Fixes“ den kantenlosen Diskurs. Sie bleibt allgemein und lässt sich nicht auf die Äste hinaus. Das zeigt sich bereits am Anfang des Films. Statt von Kindheit und Jugend zu reden, sagt sie, was jeder weiss: Dass in Le Locle winters meterhoch Schnee lag und dass die Fabrikfenster am frühen Morgen hell erleuchtet waren. Aber der Journalist Gilles Vuissoz vergisst zu fragen, wie sie als Kind war: Was hat sie gespielt? Mit wem? Hatte sie eine beste Freundin? Wie war sie in der Schule?

 

Das Gespräch plätschert freundlich dahin. Der Journalist nennt sie Marianne, aber er tritt ihr nicht nahe, er quetscht sie nicht aus. Ganz anders wäre es herausgekommen, wenn sich Marianne Huguenin für ein Gespräch mit der BBC zur Verfügung gestellt hätte, wie etwa Roger Federer, Naomi Klein, Robert Mugabe oder Hugo Chávez. Schon der Titel der Sendung verkündet, wie unangenehm es zugehen wird: „HardTalk“. Das Format bietet „tiefgehende Interviews mit knallharten Fragen und sensiblen Themen, die behandelt werden, indem berühmte Persönlichkeiten aus allen Bereichen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens sprechen.“ (HardTalk provides „in-depth interviews with hard-hitting questions and sensitive topics being covered as famous personalities from all walks of life talk about the highs and lows in their lives.”)

 

Zu den „Tiefen ihres Lebens“ gehört vermutlich die Phase oder Situation (?), die Marianne Huguenin veranlasste, psychotherapeutische oder psychoanalytische (?) Hilfe zu beanspruchen. Der Journalist der „Plans Fixes“ nimmt die Aussage nickend entgegen, hakt aber nicht nach. Auch nicht beim Stichwort „Coming-out“. Marianne Huguenin lebt heute mit einer Frau zusammen. Ihr Name steht im Telefonverzeichnis. Wie kam es dazu? Im Telefonverzeichnis findet sich auch, befremdlich, hinter Mariannes Vornamen der Zusatz „Huguenin (-Dezot)“. War sie mal mit einem Mann verheiratet? Wie kam es dazu? Wie ging es auseinander?

 

Im weichgespülten Porträt der „Plans Fixes“ werden diese Fragen nicht gestellt. Dazu hätte die BBC Renens aufsuchen müssen. Jetzt aber ist „Gilles“ nett zu „Marianne“. Wie bei einem Altersheimbesuch schont der Journalist sein Gegenüber. Er weicht dem Hard Talk in einem grossen Bogen aus und vermeidet alles, was nach Konfrontation aussehen könnte. Welch ein Irrtum! Vor zweihundert Jahren schon konstatierte der Weimarische Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe: „Wenn man streitet, vernimmt man etwas voneinander.“

 

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