Michel Mayor: Astrophysiker, Planetenjäger.

12. Januar 1942 –

 

Aufgenommen am 22. Dezember 2011 in Trélex.

http://www.plansfixes.ch/films/michel-mayor/

 

> 2019, acht Jahre nach der Aufnahme für die „Plans Fixes“, erhielt Michel Mayor, emeritierter Professor für Astrophysik an der Universität Genf, den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung des ersten Exoplaneten 51 Pegasi b. Wenn er nun im Film von der Ausdehnung unserer Galaxie erzählt, die vom einen Ende zum andern hunderttausend Lichtjahre beträgt, kommt einem manches irdische Geschehen schäbig vor. <

 

Mit 45 Jahren wurde George Steiner Professor für Komparatistik an der Universität Genf. Dann bekam er den Lord-Weidenfeld-Lehrstuhl für Komparatistik am St Anne’s College der Universität Oxford und die Norton-Professur of Poetry an der Harvard-Universität. Das Metzler-Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie sagt über ihn: „Stilistische Brillanz und Prinzipientreue haben dem häufig ausgezeichneten, doch im Kollegenkreis nicht unumstrittenen Steiner zu aussergewöhnlicher Breitenwirkung verholfen.“

 

Am Ende seiner Karriere wurde der weithinleuchtende Experte für vergleichende Literaturwissenschaft gefragt, ob er seinen Weg ein zweites Mal einschlagen würde. Zum Erstaunen des Interviewers antwortete er: „Nein.“ Das Bekenntnis forderte eine Erklärung, und Steiner lieferte sie: „Es gibt auf meinem Gebiet nichts Neues mehr zu entdecken. Wozu noch die dreihunderttausendste Interpretation von ‚Hamlet‘ schreiben, wenn schon so viele ausgezeichnete Köpfe das Wesentliche herausgearbeitet haben? Die Situation führt bloss zur Grämlichkeit der Literaturwissenschaftler. Immer wieder bin ich entsetzt über die verbitterten Mienen, die mir in den Institutskorridoren begegnen. Wenn ich aber zu den Naturwissenschaften hinüberwechsle, treffe ich auf lauter fröhliche Gesichter, und in den Gängen ist immer wieder Lachen zu hören. Darum würde ich heute, wenn ich wieder anfangen müsste, Physik studieren. Da geht es vorwärts, nicht in der Literaturwissenschaft.“

 

Das Lachen in den Institutskorridoren zitiert auch der Interviewer Georges Meynet, wenn er Michel Mayor im Vorspann seines „Plans Fixes“-Porträts vorstellt. Und das Auftreten des Mannes, der die obligatorische Schulzeit in Aigle absolviert hat und nun mit Dankbarkeit von den Lehrern spricht, die ihn für die naturwissenschaftliche Forschung begeistert haben, darunter der Obervatoriumsdirektor > Marcel Golay, vermittelt von den ersten Gesprächsminuten an eine klare, um nicht zu sagen: leuchtende Vernunft, verbunden mit stupender Darstellungsgabe und Freude an gescheiten Fragestellungen.

 

Die Astrophysik, eine Wissenschaft, die sich erst im 20. Jahrhundert herausbildete, befindet sich in jener Lage, die Bert Brecht im „Leben des Galilei“ mit den Worten einleitete: „Es ist morgens.“ Die Fragen, mit denen sich Galilei beschäftigt, versteht sogar ein Kind, im konkreten Fall Andrea Sarti, der Sohn der Haushälterin:

 

Galilei dreht wieder den Apfel mit dem Splitter: Also unter dir siehst du die Erde, die bleibt gleich, sie ist immer unten und bewegt sich nicht für dich. Aber jetzt schau über dich. Nun ist die Lampe über deinem Kopf, aber jetzt, was ist jetzt, wenn ich gedreht habe, über deinem Kopf, also oben?

Andrea macht die Drehung mit: Der Ofen.

Galilei: Und wo ist die Lampe?

Andrea: Unten.

Galileo: Aha!

Andrea: Das ist fein, das wird sie [die Mutter] wundern.

 

Galileis einfache Sprache sticht ab vom raunenden Gewäsch des Philosophen: „Das Weltbild des göttlichen Aristoteles mit seinen mystisch musizierenden Sphären und kristallenen Gewölben und den Kreisläufen seiner Himmelskörper und dem Schiefenwinkel der Sonnenbahn und den Geheimnissen der Satellitentafeln und dem Sternenreichtum des Katalogs der südlichen Halbkugel und der erleuchteten Konstruktion des celestialen Globus ...“ Und er stellt die Grundsatzfrage, die alle Forschung abwürgt: „Ganz absehend von der Möglichkeit solcher Sterne, möchte ich in aller Bescheidenheit als Philosoph die Frage aufwerfen: sind solche Sterne nötig?“

 

Im Gegensatz zum Geraune des Philosophen scheint im Porträt von Michel Mayor, wie seinerzeit bei Galilei, „das Licht des Wissens hell“. Aber der Nobelpreisträger betont, dass hinter seiner Wissenschaft immer Teams stehen, etwa zwanzig Leute, allesamt hoch qualifizierte Arbeiter in ihrem Fach, angefangen beim Mechaniker, Elektriker, Optiker bis zum theoretischen Physiker.

 

Das war schon so in der Geburtsstunde der modernen Physik, „in dem Jahr sechzehnhundertundneun zu Padua“:

 

Galilei: Sollten wir nicht in der Umgangssprache fortfahren? Mein Kollege, Herr Federzoni, versteht Latein nicht.

Der Philosoph: Ist es von Wichtigkeit, dass er uns versteht?

Galilei: Ja.

Der Philosoph: Entschuldigen Sie mich. Ich dachte, er ist Ihr Linsenschleifer.

Andrea: Herr Federzoni ist ein Linsenschleifer und ein Gelehrter.

Der Philosoph: Danke, mein Kind. Wenn Herr Federzoni darauf besteht ...

Galileo: Ich bestehe darauf.

 

Linsenschleifer, Elektriker und Mechaniker bauen Geräte, die den Astrophysikern erlauben, jene Beobachtungen zu machen, die ihre Hypothesen bestätigen oder widerlegen. So hat das Team um Michel Mayor die Spektrographen ELODIE, CORALIE und HARPS entwickelt. Sie ermöglichten es, mehr als fünfhundert Exoplaneten zu entdecken.

 

Um ein Team zu führen, darf man nicht introvertiert sein. Dass die Körpersprache Michel Mayors der des Cineasten > Alain Tanner gleicht, ist mithin nicht erstaunlich. Beide sind, in der Nomenklatur der Typenpsychologinnen Melanie Alt und Stefanie Stahl, „Beziehungsminister“: „Neben ihrer Menschen­freundlichkeit kennzeichnet die Beziehungsminister eine grosse Sprachbegabung aus, sie sind die geborenen Kommunikatoren. Beziehungsminister können überzeugen und begeistern, manche verfügen über eine geradezu charismatische Ausstrahlung. Zumeist sind sie amüsante Unterhalter und oft mitreissende Geschichtenerzähler, nicht zuletzt, weil es ihnen leicht fällt, ihr Inneres zu offenbaren. Dadurch werden ihre Erzählungen sehr lebendig.“

 

Auch der Göttinger Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg (er lehrte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) war auf Assistenten und Labormitarbeiter angewiesen. Deshalb notierte er sich: „Gewöhne deinen Verstand zum Zweifel und dein Herz zur Verträglichkeit.“ Damit kommt man weit. Das Porträt von Michel Mayor zeigt’s. q.e.d.

 

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