Gisèle Sallin und Véronique Mermoud: Regisseurin – Schauspielerin.

14. November 1949 – / 18. April 1947 –

 

Aufgenommen am 19. August 2004 in Givisiez.

Sallin Gisèle Mermoud Véronique – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> 2003, ein Jahr vor der Aufnahme für die „Plans Fixes“, erhalten die Theaterfrauen Gisèle Sallin und Véronique Mermoud Mitte fünfzig die höchste Auszeichnung, die die Schweiz zu vergeben hat: den Hans-Reinhard-Ring der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur. Damit wird eine Zusammenarbeit belohnt, die 1978 zum Théâtre des Osses führte und 2002 zur staatlichen Anerkennung der Spielstätte in Givisiez (FR) als Centre dramatique fribourgeois. <

 

Bei der Geschichte, die die beiden Theaterfrauen erzählen, kann man erfahren, was Theater ausmacht: Intensität und Intuition. Intensität bedeutet: „Du sollst keine andern Götter neben mir haben.“ Wer für die Bühne lebt, verschreibt sich ihr mit Haut und Haar. Er lebt unter der Armutsgrenze. In Österreich verdienen die Angehörigen der freien Szene im Monat tausend Euro (13’000 pro Jahr). Bei den öffentlichen Bühnen sieht es leicht besser aus: Da liegt die Einstiegsgage bei 1765 Euro monatlich. Zwei Drittel aller Schauspieler aber müssen bis ins Alter mit weniger als 2500 Euro auskom­men.

 

Doch braucht es mehr zum Leben? Wenn Shakespeare sagte: „Die ganze Welt ist Bühne, und alle Männer und Frauen blosse Spieler“ (All the world’s a stage, / And all the men and women merely players), so verhalten sich für die Theaterleute die Dinge umgekehrt: Für sie ist nicht die Welt eine Bühne, sondern die Bühne ist die Welt. Alle Menschen, an die sie denken, können sie heraufbeschwören. Braucht es mehr zum Leben?

 

Sigmund Freud: „Die Ersatzbefriedigungen, wie die Kunst sie bietet, sind gegen die Realität Illusionen, darum nicht minder psychisch wirksam dank der Rolle, die die Phantasie im Seelenleben behauptet hat. Wer für den Einfluss der Kunst empfänglich ist, weiss ihn als Lustquelle und Lebenströ­stung nicht hoch genug einzuschätzen.“

 

Intuition bedeutet: Spüren, worauf die Dinge hinauslaufen möchten und den Raum für ihre Eigengesetzlichkeit schaffen. Das passiert, wenn die Schauspielerin Véronique Mermoud unter Leitung ihrer Regisseurin Gisèle Sallin auf der Bühne für eine Figur den richtigen Ausdruck sucht. Für diese Arbeit verwenden die deutschsprachigen Theaterleute nicht, wie die Laien meinen, das Wort „proben“, sondern sie sprechen, zutreffender, von „probieren“.

 

Intuition zeigten Gisèle Sallin und Véronique Mermoud auch beim Gesamtverlauf ihrer Karriere. Nicht nur begegneten sie immer wieder den richtigen Leuten, sie packten auch in den entscheidenden Momenten die Gelegenheit, die ihnen die Fügung zuspielte. Der Schweizer Regisseur Kurt Josef Schildknecht, der in Österreich und Deutschland Karriere gemacht hat, sagte immer: „Jeder Mensch hat seine Chance. Er muss sie nur packen. Sie kommt einmal. Dann nicht wieder.“

 

Es ist also nicht nebensächlich, wenn die Theaterfrauen am Anfang der Aufnahme gleich ihr Sternzeichen benennen. Véronique: Widder, Aszendent Löwe; Gisèle: Skorpion. Ihre Bahnen wurden, wie es rückblickend im Film aussieht, von höherer Macht gelenkt.

 

Mit dieser Auffassung stehen sie nicht allein. Auch Goethe beginnt seine Autobiografie mit dem Horoskop:

 

Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig, Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins umso mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorüberge­gangen.

 

Gisèle Sallins und Véronique Mermouds Berufsweg führte sie, wie heute auch im deutschen Sprachraum zunehmend üblich, im Zickzack durch die freie Szene und zu festen Truppen. Vier Jahre tourten sie durch die Dörfer und Städte der Westschweiz, und wenn das Licht erloschen war, packten sie das Bühnenmaterial in den Bus und fuhren an den nächsten Ort. – Auf diese Weise praktiziert die freie Szene, was früher bei der Wander­schmiere üblich war. (Heute kommt die Schmiere nur noch im Politbetrieb vor: „Herr Fraktionspräsident, das ist Schmierentheater!“)

 

Bibi Gessner ist dem Begriff noch begegnet, als sie sich am Zürcher Schauspielhaus bei Oskar Wälterlin um eine Sekretariats­stelle bewarb. Der Direktor, der das legendäre Kriegsensemble geleitet hatte, erklärte der jungen Frau: „Bei uns können Sie gerne arbeiten. Aber Sie müssen wissen: Wir sind keine Schmiere!“ Bibi Gessner hatte das Wort noch nie gehört und schaute entsprechend verdutzt drein. „Also“, erklärte Wälterlin, „bei einer Schmiere machen Sie am Nachmittag das Sekretariat, am Abend ziehen Sie den Vorhang auf, treten im ersten Akt mit einer Ansagerolle auf [Ansagerollen kündigen eine Person an: „Gnädige Frau, draussen steht ein Herr.“], in der Pause verkaufen Sie Eis, und nach der Vorstellung helfen Sie, Requisiten wegzuräumen. Bei uns aber machen Sie nur das Sekretariat. Ist das klar?“

 

Mit dieser Regel ist es – im Unterschied zur freien Szene – bei festen Häusern ausge­schlossen, von einem Job hinter der Bühne auf die Bühne selbst zu gelangen oder vom administrativen und technischen Bereich in den künstlerischen vorzustossen. Die Kasten sind voneinander getrennt. Über allen aber thront, einsam wie Gott, der Intendant.

 

Walter Oberer, der spätere Direktor des Berner Stadttheaters, erinnert sich:

 

Wälterlin verpflichtete mich 1948 als Dramaturg und Referent des Direktors an das Schauspielhaus Zürich. Zwischen ihm und mir bildete sich in kurzer Zeit ein ausgesprochenes Vertrauensverhält­nis. Eines Tages kam er nach Probenende zu mir ins Büro, völlig aufgelöst, und sagte, die Tränen nur schwer zurückhaltend: „Waisch, Walter, ih glaub’, ih gib’s uff, s het kai Sinn mehr. Niemets verschtoht mih, was ih will und niemets hett mih gärn.“ [Weisst du, Walter, ich glaube, ich geb’s auf, es hat keinen Sinn mehr. Niemand versteht mich, was ich will, und niemand liebt mich.]

 

Ähnlich erging es > Benno Besson 1982, als er nach jahrzehntelanger Intendantentätigkeit in der DDR die Leitung der Comédie de Genève übernahm. Gisèle Sallin war als Regieassistentin und Véronique Mermoud als Schauspielerin bei der ersten Produktion „L’oiseau vert“ beteiligt. Die Regie­assistentin erlebte den Chef einzig als Chef: Kein persönliches Gespräch, keine gemeinsame Kaffeepause. Derweil wuchs im Ensemble von Probe zu Probe der Widerstand. Besson kehrte den Patron heraus. Er erklärte nichts, sondern forderte bloss bestimmte Tonhöhen: „Hinauf mit der Stimme! Hinunter mit der Stimme! Mittellage!“ Véronique Mermoud, die einen Partner erwartet hatte, war zuerst enttäuscht, dann wütend. „So ging es dem ganzen Ensemble. Niemand glaubte mehr an einen Erfolg. Doch am Ende standen die Premierenzuschauer zum Applaus auf. Das müssen Sie sich vorstellen: in Genf! Wir schielten einander beim Verbeugen an und fragten uns: Wie ist das möglich?“

 

Tja, so war das beim Theater seit jeher. 1911 beschrieb Arthur Kahane, Dramaturg des Berliner Deutschen Theaters von 1905–1932, die Regietätig­keit seines Freundes Max Reinhardt:

 

Manchmal treibt er den Schauspieler bis zu Möglichkeiten, von denen der Geführte selbst nichts geahnt hat. Jeden bringt er zur Enthüllung seine innersten Natur. Jeden drängt und zwingt er, sein Bestes und Tiefstes herzugeben. Mit allen Mitteln: hier durch intensivste Arbeit, durch Einzelstudium nach den Proben, dort durch Widerspruch, durch Ärger, durch Nervosität. Am Ende gibt jeder, auch der Letzte, mehr her, als er selbst zu haben glaubte.

 

Wie sich zeigt, kann man beim Theater alles machen. Was zählt, ist einzig der Erfolg. Am besten fährt man mit Max Reinhardts Devise: „Was wir machen, muss ersten Ranges sein!“ Dann spricht einem am Ende der Kanton Freiburg die Mittel für die Gründung eines Centre dramatique fribourgeois zu. Wie’s dazu kommt, wissen Gisèle Sallin und Véronique Mermoud anschaulich und packend zu erzählen.

 

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