Arthur Maret: Lausanner Politiker.

11. August 1892 – 3. Mai 1987.

 

Aufgenommen am 23. Mai 1979 in Lausanne.

Arthur Maret – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Heute vergisst man gern, dass es in der vielbeschrienen Zeit der Stadtväter und der väterlichen Landesregierungen oft auch beeindruckend integre Persönlichkeiten gab, bei denen es mehr als eine Floskel war, wenn man über sie sagte, sie stellten ihr Bestes in den Dienst der Allgemeinheit. Zu dieser ausgezeichneten Sorte gehörte Arthur Maret, 1934–37 Stadtpräsident des roten Lausanne und 1946–62 erster sozialdemokratischer Waadtländer Staatsrat (kantonale Exekutive). <

 

In der Aufnahme mit dem 87-jährigen Waadtländer Staatsmann Arthur Maret kommt die Frau an seiner Seite nicht zur Erwähnung. Ihr Dienst bestand eben zur Zeit, als sich der Gatte politisch betätigte, nicht im Dienst am Land, sondern im Dienst am Mann. Arthur Maret war zweimal verheiratet. Das sagt das „Historische Lexikon der Schweiz“. Aber es sagt nicht, ob er Kinder hatte. Und in den „Plans Fixes“ spricht Arthur Maret nur gerade über den politischen Werdegang. Das Privatleben bleibt, wie man heute sagt, „aussen vor“.

 

Der Film trägt die Nummer 12 im Pantheon der Westschweizer Persönlich­keiten. Alle paar Minuten muss die 16 mm-Spule gewechselt werden. Das Gespräch führt Michel Bory, der Initiator der „Plans Fixes“, die heute, 43 Jahre später, bei der Nummer 358 angekommen sind. Der Kameramann, der die ersten 192 Filme montierte, nennt sich noch Ernest und nicht > Nag Ansorge. Pro Take gibt es ein Stichwort: Die Jugend. Der Einstieg in die Politik. Das rote Lausanne. Die Nachkriegsjahre. Dann trägt der Gefilmte seine Botschaft vor.

 

Sobald er spricht, tritt Arthur Marets ungewöhnliches Format hervor. Es liegt einerseits im Charakter unbedingter Ehrlichkeit und Verlässlichkeit („Probität“ nannte man diese Eigenschaft zu seiner Zeit; heute ist das Wort, wie das Fremdwörterbuch des Duden erklärt, „veraltet“). Andererseits hat die Rede des Hochbetagten Fasslichkeit, Kraft und Eingängigkeit. Mit diesen Trümpfen konnte er als Politiker die Wähler überzeugen. Und mit ihnen trat er, wie der bürgerliche Genfer Staatsmann > Jaques Vernet, aus dem Haufen hervor.

 

Bei den grossen Menschen ist die Rede immer schlicht. Das fiel schon dem Berner Patrizier Karl Viktor von Bonstetten auf, als er um 1770 England, Frankreich, Belgien, Holland und Italien bereiste: „In allen Ländern der Welt pflegen die geistreichen Menschen den einfachsten Ton, und es gibt nur einige dunkle Ecken in der Provinz, in denen man Affektiertheit und den Ton der Anmassung erträgt.“ (Dans tous les pays du monde les gens d’esprit ont le ton le plus simple, et il n’y a que quelques coins obscurs de province où l’on supporte l’affectation et le ton de prétention.)

 

Arthur Maret verdankt die Fasslichkeit, Kraft und Eingängigkeit seiner Redeweise dem Umstand, dass er von unten heraufkam. Mit 14 verlor er den Vater. Die Mutter musste sich und die fünf Kinder allein durchbringen. Mit 15 fing der Bub an, als Ausläufer zum Erwerb beizutragen. Ein Jahr später bot ihm der Arbeitgeber eine kaufmännische Lehrstelle an. Nach dem Abschluss kam er als Buchhalter in die Lausanner Bauarbeitergenossenschaft „Coopérative des ouvriers du bâtiment“ und wurde deren Verwalter. Da erhielt er den letzten Schliff: Seine Klienten verlangten eine deutliche Sprache und gerade Auskünfte.

 

Ehrlichkeit hatte Arthur Maret zuvor schon im „Christlichen Verein junger Männer“ (CVJM) gelernt (und wohl auch zuhause). Dort bekam er Gelegenheit, das Auftreten, das Führen und Argumentieren zu üben. In die Politik trat er logischerweise als Christlich-Sozialer ein. Mit 26 wurde er zum ersten Mal ins Lausanner Gemeindeparlament gewählt (1918). Er blieb dort 15 Jahre. Und durch diese Zeit bestätigte sich Georg Christoph Lichtenbergs Beobachtung: „Dauerndes Glück ist nur in Aufrichtigkeit zu finden.“

 

Bei der Wahl zum Stadtpräsidenten 1934 – und erst recht bei der Abwahl vier Jahre später – lernte Arthur Maret, was Fake News sind. Er selber kennt das Wort noch nicht. Und das Wort „Lüge“ spricht er nicht aus. Er sagt bloss: „Die Bürgerlichen versprachen den Wählern …“

 

Es sei einfach, die Frage zu beantworten, warum die Lüge so leicht zu Wort komme, weshalb sie eine so brillante Rednerin sei, erklärt Margret Walter-Schneider:

 

Die Lüge ist ein linguistisches Phänomen, ist linguistisches Phänomen von Haus aus. Unabhängig von Sprache, ohne Sprache, vorsprachlich existiert sie nicht. (Das Tier, das Ausdruck, aber keine Sprache hat, lügt nicht. Das Kind lernt lügen in dem Mass, als es sprechen lernt.) Lüge muss nicht wie Wahrheit aus einem sprachfremden Bereich ins Medium der Sprache übersetzt werden, wenn sie sich mitteilen will. Für die Lüge ist Sprache Muttersprache; der Wahrheit muss sie immer Fremdsprache sein.

 

Mit 26 Jahren, im selben Alter, wo Arthur Maret zum ersten Mal in den Conseil communal einzog (1918), hielt Johannes von Müller in Genf die erste Vorlesung (1778). Sie trug den Titel „Cours de politique“. Die ersten Sätze zeigen die weitgespannte Sicht des historischen Genies:

 

Am Anfang aller Dinge hat die Geselligkeit, die den Menschen natürlich und angeboren ist, sie dazu gebracht, sich zu versammeln. Jede Gesellschaft hat ihren Zweck; es gibt nichts im Universum, das nicht seinen Zweck hat. Jeder Gesellschaft muss ihr Zweck irgendeinen Vorteil gebracht haben, denn wir handeln immer nur, um uns etwas Gutes zu verschaffen; das ist unser ständiges Ziel, aber wir können uns bei der Wahl irren. Dies vorausgesetzt, hat jede Gesellschaft stillschweigend oder durch Gewohnheit oder schriftlich geregelt, wie man zu diesem Ziel gelangt; diese Regelungen werden die Gesetze jeder Gesellschaft genannt. Die Regeln setzen voraus, dass es etwas zu regeln gab, und die Herstellung der Ordnung setzt voraus, dass nicht alles so war, wie es hätte sein sollen. Um nun die Unordnung zu erklären, die zur Herstellung der Ordnung geführt hat, muss man bemerken, dass die Natur einen sehr grossen Unterschied zwischen den Menschen gemacht hat und dass es nichts Falscheres gibt als die Idee der natürlichen Gleichheit; das ist eine Beobachtung, die Sie an den Ufern des Ohio und am Fusse des Ural ebenso machen können wie in den zivilisierten Ländern, so dass Sie gut sehen, dass es nicht die bürgerliche Ordnung ist, die uns so schrecklich pervertiert hat. Nun, der Stärkere hat seine Kraft eingesetzt, und die Schwächeren konnten ihn nicht durch Zusammenschluss zähmen. Daraufhin schufen die Gesellschaften Gesetze, um den Missbrauch der Macht zu regeln. Da liegt der Unterschied zwischen den gebildeten Völkern und den wilden Nationen, dass bei diesen die Kraft selbst alles vermag, bei jenen aber das Gesetz.

 

(Dans le commencement de toutes choses, la sociabilité, naturelle et innée aux hommes, les a portés à se réunir. Chaque société à son but ; il n’y a rien dans l’univers qui n’ait son but. Il faut que chaque société ait eu quelque avantage pour son but, car nous n’agissons jamais que dans la vue de nous procurer quelque plaisir ; c’est notre but constant, mais nous pouvons nous tromper sur le choix. Cela supposé, chaque société a réglé tacitement ou par la coutume ou par écrit les moyens de parcourir à ce but ; ces règlements s’appellent les lois de chaque société. La règle suppose qu’il y ait eu quelque chose à régler, et l’établissement de l’ordre suppose que toute chose n’ait pas été comme elle aurait dû être. Or, pour expliquer le désordre qui a donné lieu à l’établissement de l’ordre, il faut remarquer que la nature a mis une très grande différence entre les hommes et qu’il n’y a rien de plus faux que l’idée de l’égalité naturelle ; c’est une observation que vous pourrez faire sur les bords de l’Ohio et au pied de l’Oural comme dans les pays policés, de sorte que vous voyez bien que ce n’est pas l’ordre civil qui nous a si terriblement pervertis. Or, le plus fort a fait usage de sa force, et les plus faibles n’ont pu le dompter par la réunion. Les sociétés ont alors établi des lois pour régler l’abus de la force. C’est ce qui fait la différence des peuples policés avec les nations sauvages, que parmi celles-ci la force peut tout elle seule, parmi ceux-là c’est la loi.)

 

Am Ende der ersten Vorlesungsstunde beantwortete Johannes von Müller die Frage: „Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universal­geschichte?“ (Titel von Friedrich Schillers Antrittsvorlesung vom 26. Mai 1789 an der Universität Jena):

 

Ich wünsche mir, meine Herren, dass die politischen Kenntnisse, über die wir uns unterhalten werden, Sie gleichgültiger gegenüber den schönen Dingen und empfindsamer gegenüber den grossen Dingen machen werden, als es heute der Fall ist; dass Sie die Kenntnisse zum öffentlichen Wohl des Königreichs und der Republik, deren Bürger Sie sind, einsetzen können und dass diejenigen, die im nächsten Jahrhundert solche Vorlesungen halten werden, von einigen von uns Taten nennen können, die es wert sind, beschrieben zu werden, oder Werke, die es wert sind, gelesen zu werden.

 

(Je souhaite, Messieurs, que les connaissances politiques dont nous nous entretiendrons vous rendront plus indifférents aux jolies choses et plus sensibles aux grandes choses qu’on ne l’est aujourd’hui, que vous puissiez les employer au bien public du royaume et de la république dont vous êtes citoyens, et que ceux, qui dans le siècle suivant donneront de ces leçons, puissent citer de quelques-uns d’entre nous des actions dignes d’avoir été décrites ou des œuvres dignes d’être lues.)

 

Arthur Maret ist ins „Historische Lexikon der Schweiz“ eingegangen: 

 

M. spielte eine massgebliche Rolle bei der Entwicklung der kant. Wasserkraftwerke und dem Ausbau des Strassennetzes (Autobahn Lausanne-Genf, Gr.-St.-Bernhard-Tunnel).

 

Aber noch schöner als die „Taten“ von Arthur Maret ist der Titel der Zeit­schrift, die der 87-Jährige zum Zeitpunkt der Aufnahme noch redigiert: „L‘Espoir du monde“.

 

Das sind Werke, „die es wert sind, beschrieben zu werden“!

 

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