Jean Zermatten: Im Dienst am Schutz des Kindes.

2. März 1948 –

 

Aufgenommen am 9. Januar 2013 in Drône-Savièse.

Jean Zermatten – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Bis zur Matur kam Jean Zermatten (* 1948) nicht aus dem Unterwallis – „nicht einmal ins Oberwallis“, erzählt der 65-Jährige wohlgelaunt. Dann kam er mit zwanzig nach Freiburg i.Ü., zuerst zum Studieren, dann zum Arbeiten. Mit 32 fand er zurück in die Heimat. Dort wirkte er 25 Jahre lang in Sitten. Dann wurde er im Alter von 57 Jahren in ein UNO-Komitee gewählt. Das bedeutete, zur Krönung der Karriere, den Schritt nach New York und in die Welt. <

 

Jean Zermatten war zwanzig, als über seinen Vater > Maurice Zermatten von den linken Intellektuellen das Scherbengericht verhängt wurde. Fortan stand der Präsident des Schweizerischen Schriftstellervereins in Ächtung. Die mit Namen hatten sich abgewandt: Peter Bichsel, Walter Matthias Diggelmann, Friedrich Dürrenmatt, Ernst Eggimann, Jürg Federspiel, Max Frisch, Ludwig Hohl, Kurt Marti, Adolf Muschg, Jörg Steiner, Walter Vogt, Otto F. Walter et al.

 

Jean Zermatten fand den Vater zu Unrecht beschuldigt. Immerhin hatte der Vorstand des Schriftstellervereins seinem Präsidenten einstimmig das Vertrauen ausgesprochen, und Maurice Zermatten widerlegte in mehreren Artikeln die Vorwürfe. Doch das „audiatur et altera pars“ war ausser Kraft gesetzt: „Niemand las, was er sagte“, erklärt Jean Zermatten bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“, und niemand liest mehr, stellen wir heute fest, Maurice Zermattens dichterisches Werk. „Les Sèves d’enfance“, nach Meinung des Sohns wie des Vaters etwas vom Besten unter den achtzig Titeln, ist 28 Jahre nach dem Druck der letzten Auflage noch immer nicht erschöpft. Also ein Ladenhüter.

 

„Wie war denn Ihre Kindheit?“, fragt Patrick Ferla, der Interviewer, den Sohn des Schriftstellers. „Wir wurden sehr geliebt, meine fünf Geschwister und ich“, antwortet er. „Das gab uns eine gute Basis. Als Kind war ich folgsam und wohlerzogen.“ Die Noten reichten fürs Gymnasium von Sitten. Dort wurde Jean im Französisch vom Vater unterrichtet. Gern hätte der Lehrer Zermatten, überzeugt von der Qualität der Aufsätze des Schülers Zermatten, den Sohn Literatur studieren sehen. Doch der wählte „aus Widerspruchsgeist“, wie er sagt, und wohl ebenfalls, um seine Selbständigkeit zu markieren, die Rechtswissenschaften, auch wenn sie nur eine mässige Faszination ausübten.

 

Immerhin verschaffte ihm das Jus ein sicheres Einkommen im Staatsdienst. Mit einer halben Stelle konnte er – ohne die finanzielle Unterstützung des Vaters in Anspruch und den Lehrerberuf ergreifen zu müssen – das Studium der Literaturwissenschaft aufnehmen. Jean Zermatten: „Ich sah ja beim Vater, wie anstrengend das Unterrichten war, und wie er sich die Zeit zum Schreiben zusammenstehlen musste.“

 

Maurice Zermatten schrieb von Hand. Die Mutter tippte die Manuskripte ab, insgesamt achtzig Titel, jeweils mit sieben Durchschlägen. „Übte sie auch Kritik am Autor und am Ehemann aus?“, will Patrick Ferla wissen. „Nicht, dass ich wüsste“, antwortet Jean, „dafür bewunderte sie ihn viel zu sehr.“

 

Bewunderung – diese Haltung ist heute unverständlich (obwohl im Netz milliardenfach bezeugt). Am Buch über Zermattens Kollegen, den Schriftsteller und Professor Roland Donzé, das unter dem Titel „Nachdenken, Forschen, Schreiben“ herauskam, spiesste die feministische Kritik den Abschnitt auf:

 

Jahrzehntelang bildete der Donnerstag für Anne den Höhepunkt der Woche. Sie bewegte sich gern und liebte es, sich beim Wandern mit Gleichgestimmten auszutauschen. Der Verzicht auf die Donnerstage (les jeudis) war aus diesem Grund wohl das grösste Opfer unter den vielen, die Anne für ihren Mann geleistet hat. Weil er zur Angina pectoris eine Agoraphobie entwickelt hatte, ertrug er keine Menschen mehr um sich herum, sah sich aber auch nicht imstande, den ganzen Tag allein in der Wohnung zu verbringen, aus Angst, gerade dann einer Herzattacke zu erliegen. Darum verlangte er, dass Anne den Klub der Dozentenfrauen verlasse. Sie solle in Rufnähe bleiben. Als Donzé mir das erklärte, stand Anne mit dem Kaffeekrug daneben und legte ihrem Mann die Hand auf die Schulter: „Wissen Sie, für meinen Liebling ist mir nichts zuviel. Sie kennen ihn ja. Er ist ein so ausserordentlicher Mensch, dass man nicht nein sagen darf, wenn er einen braucht.“

 

Nein sagen. Für die Ansprüche Angehöriger gibt es heute Betreuungsdienste. Verzicht – jemand anderem oder etwas anderem zulieb – ist nicht mehr nötig.

 

Jean Zermatten wurde nach dem Lizenziat in Jus selber Schreiber, genauer: Gerichtsschreiber am Freiburger Jugendgericht. Dort redete ihm der Chef, eine imponierende Figur, das Literaturstudium aus: „Du bist fürs Jugendrecht gemacht!“, und er vermittelte ihm die Stelle als Richter ad hoc ans kantonale Jugendstrafgericht.

 

Ein paar Jahre später, 1980, schuf der Kanton Wallis seinerseits eine Jugendstrafrechtspflege und setzte den 32-jährigen Jean Zermatten dafür als Gerichtspräsidenten ein. 20’000 Angeschuldigte sind in den 25 Jahren seines Diensts an ihm vorbeigezogen, verschiedene mehrmals: „Es ist wichtig, den jungen Menschen eine Chance zu geben, und wenn nötig auch eine zweite oder dritte. Die Jungen haben so viel zu bieten. Ihr Potential darf der Gesellschaft nicht verlorengehen.“

 

Sprung über den Teich. Am 20. November 1989 verabschiedete die General­versammlung der Vereinten Nationen einstimmig das Übereinkom­men über die Rechte des Kindes – die bis heute erfolgreichste Konvention der UNO. Ihr traten alle Staaten bei, mit Ausnahme der USA. Um das Vertragswerk verbreiten zu helfen, die Forschung zu vernetzen und Spezialisten auszubilden, gründete Jean Zermatten 1995 das „Institut international des droits de l’enfant“. Es brachte ihm den Ruf nach New York ein, ab 2005 als Mitglied und von 2011 bis 2013 als Präsident des UNO-Komitees für die Kinderrechte.

 

Sprung in die Vergangenheit. 1777 veröffentlichte Friedrich Eberhard von Rochow das erste deutsche Volksschullesebuch: „Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen“. Der vierte Text trägt den Titel:

 

Das arme Kindermädchen

 

Ein armes Mädchen, das bei fremden Leuten die Kinder warten musste, sass und weinte. Da fragte die Frau im Hause: „Warum weinest du? Fehlt dir etwas?“ „Ach!“, sagte das Mädchen, „wenn ich daran gedenke, was aus mir werden wird, dann muss ich wohl weinen! Die andern Kinder gehen in die Schule und lernen viel Gutes, und ich wachse auf wie Unkraut. Ich selbst habe nichts, um das Schulgeld zu bezahlen; denn ich muss ums Brot dienen und bleibe also ungeschickt. Wer wird mich in Dienst nehmen wollen, wenn er geschicktere Leute bekommen kann! Ich wollte gern die Nacht arbeiten, wenn ich nur in die Schule gehen und was lernen dürfte!“ Da ward die Frau gerührt und dachte: „Ich will mich dieses armen Mädchens erbarmen. Gott will, dass wir Mitleiden mit den Armen haben sollen; und jemand was Gutes lernen lassen ist die grösste Wohltat, die man ihm erzeigen kann.“ Sie schickte von der Zeit an das arme Kind alle Wochen etliche Stunden in die Schule; und je mehr Gutes das Mädchen lernte, je treuer und fleissiger arbeitete es.

 

Erbarme dich nicht allein deiner eigenen, sondern auch fremder Kinder!

(Sprüche 19, 17)

 

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