Lise Ramu: Schauspielerin.

10. August 1932 –

 

Aufgenommen am 4. Dezember 1997.

Lise Ramu – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die 65-jährige Lise Ramu beschreibt den Schauspielerberuf, den sie ein Leben lang ausgeübt hat, als nie anhaltende Suche: Was ist der Kern der Person, die ich verkörpere, und wie stelle ich ihn dar? Mit der Erfahrung werden die Antennen immer feiner. Beim Proben (Theatersprache: Probieren) versucht die Künstlerin mal die eine, mal die andere Seite herauszubringen. Sie legt hier eine Schicht auf, dann dort eine … Und am Ende „schält“ sie: Alles Wirkungslose wird entfernt, zuerst dieses, dann jenes, bis die Darstellung so natürlich daherfliesst wie ein Bach. Dann stimmt sie. <

 

Das „Plans Fixes“-Porträt von Lise Ramu beginnt mit einem Schock. Offenbar hat Gesprächsführer Bertil Galland der Schauspielerin eingeredet (bzw. nicht ausgeredet), die Aufnahme mit einer „Probe ihres Schaffens“ zu eröffnen, und nun liefert sie ohne Kostüm, ohne Bühnenbild, ohne Partner, sitzend an einem runden Tisch, einen Szenenausschnitt, der sie keinem Schauspielleiter empfehlen würde. Sie weiss selber, dass sie nicht „drin“ ist, und verrät ihr Unbehagen durch die eine oder andere Unregelmässigkeit in der Stimmführung und durch eine kleine Handbewegung, die nicht der Rolle, sondern dem Unmut geschuldet ist.

 

Fatal auch, dass die Darstellung in der Intimität des Wohnzimmers viel zu gross ausfällt und dass Mikrofon und Kamera der Schauspielerin viel zu nah auf die Pelle rücken. Nun sieht man (was im Theater von der zweiten Reihe an niemandem mehr auffallen würde), dass Lise Ramu eine Teilprothese trägt. In ihrem Oberkiefer ist ein sogenanntes „Klaviergebiss“ eingespannt. Es behindert die Artikulation und begleitet sie mit befremdlichen, weil unangebrachten Zischlauten. Im Gegensatz zu ihrem Ideal erscheint Lise Ramu nun, wie Georg Büchner gesagt hätte, nicht als Künstlerin, sondern als „Automate“, „so dass es höchst wahrscheinlich ist, dass man mich nur so reden lässt, und es eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche sind, die alles sagen. Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern!“

 

Zum Glück schiebt der Filmvorspann die Szene beiseite. Das eigentliche Gespräch beginnt, und das Gesicht der Schauspielerin belebt sich von innen her. Weil sie sich auf das konzentriert, was sie sagen will, wird Lise Ramu immer natürlicher. Sie zeigt beim Reden die Spontanität des Kindes. Der durchschnittliche Erwachsene hat sie abgelegt, gleich wie die Mitteilung von Begebenheiten, die ihn ausmachen, „nicht weil er sie für Arcana [Staatsgeheimnisse] hält, o behüte der Himmel, sondern weil er glaubt, sie schicken sich nicht“, bemerkt Georg Christoph Lichtenberg. „Denn es ist nur allzugemein [alltäglich], dass kluge Leute beim Bücherschreiben [oder Erzählen] ihren Geist in eine Form zwingen, die von einer gewissen Idee, die sie vom Stil haben, bestimmt wird, ebenso, wie sie Gesichter annehmen, wenn sie sich malen lassen [oder fotografieren].“

 

Der kindlichen Unbeschwertheit verdankt Lise Ramu den Beginn ihrer Karriere. Mit zwölf Jahren tritt sie der Hörspieltruppe von Radio Lausanne bei, kommt von dort zum Fernsehen und ans Stadttheater. Am meisten – und hier zeigt sich schon der Profi – gefällt ihr die Disziplin und die Exaktheit, mit der alle zu Werk gehen: „Die Hörspiele waren ja damals live“, erklärt sie. „Auch die Fernsehspiele.“

 

Dieselbe Disziplin und Exaktheit findet sie später bei den Truppen, bei denen sie berufsmässig einsteigt (Comédie de Saint-Étienne, Théâtre de Carouge), und bei den Regisseuren, mit denen sie zusammenarbeitet (Philippe Mentha, ihr späterer Mann, François Simon, > Benno Besson und Patrice Chéreau). Sie schätzt die hohen Ansprüche, die sie stellen, und lernt mit ihnen, auf das zu hören, was Stück und Rolle verlangen. So wird ihr Spiel im Lauf der Proben, und später im Lauf des Lebens, immer echter – und das heisst auch: immer wahrer, gefüllter, packender.

 

Mit dieser Haltung führt Lise Ramu durch die Aufnahme und macht deutlich, was Schauspielkunst heisst: einer Situation Leben schenken und den Zuschauer hineinnehmen in den Moment, wo die inneren Regungen an die Oberfläche kommen und lesbar werden. Dabei ist Lise Ramu nicht mehr „da“, in der Stube, sondern „dort“, in der Vergangenheit, die wieder auflebt, greifbar wird und gegenwärtig. Wenn Novalis definierte: „Poesie = Gemüterregungskunst“, so definiert sich bei Lise Ramu „Schauspiel = Heraufbeschwörungskunst“.

 

Das führt im konkreten Fall so weit, dass ihr und ihrem Partner, Regisseur und Ehemann Philippe Mentha ein Theaterhaus angeboten wird. Sie realisieren in Lausanne unter einem Brückenbogen (Pont Bessière) ein Stück von Jacques Probst, das ihr gewidmet wurde und 1974 in Genf zur Uraufführung kam: „Jamais la mer n’a rampé jusqu’ici“ (Noch nie ist das Meer bis hierher gekrochen). Sie spielt eine Drogensüchtige, er einen Anarchisten. Die Produktion wird zum Hype. Immer mehr Zuschauer strömen hinzu, unter ihnen der sozialistische Gemeinderat > Marx Lévy. Nach dem dritten oder vierten Besuch wendet er sich an die Künstler: „Ich erfülle Ihnen einen Wunsch! Sagen Sie mir welchen.“

 

Schon lange träumten Lise Ramu und Philippe Mentha von einem eigenen Theaterhaus. „Lassen Sie mir Zeit“, antwortet Marx Lévy. „Ich melde mich“. Zwei Jahre später führt er sie zum stillgelegten Gaswerk von Lausanne: „Da sind zwei Gebäude, die in Frage kämen. Welches möchten Sie?“ 1978 kann die Truppe die Liegenschaft übernehmen. Sie richtet das Haus mit Hilfe vieler Freiwilliger her und eröffnet das Theater Kléber-Mélau am 2. Mai 1979 mit Tschechows „Drei Schwestern“. Bald ist der Szenograph > Roland Deville von der Partie, der Mann, der nicht aufhören kann und in 50 Berufsjahren 500 Bühnenbilder hervorbringt.

 

Die Unersättlichkeit der Künstler. Sie sagen zum Leben: „Hörst du auf hineinzugiessen, so hör‘ ich auf zu fliessen.“ (Desine infundere et ego desinam fluere.) So ist es hier wie bei allem. Die Lauterkeit der Quelle definiert die Qualität, und die Mächtigkeit den Ertrag. Das weiss jeder Wasserbauer.

 

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