Jacqueline und Henri Cornaz: Doppelter Ifferter Lebensweg.

Jacqueline: 7. September 1923 – 21. August 2008.

Henri: 4. April 1920 – 21. Juni 2008.

 

Aufgenommen am 25. September 1990 in Yverdon-les-Bains.

Jacqueline et Henri Cornaz – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Als das Kamerateam der „Plans Fixes“ zum Ehepaar Cornaz fuhr, nannte sich Ifferten, die Kleinstadt am oberen Ende des Neuenburgersees, noch nicht Yverdon-les-Bains. Das Casino war erst das Casino und nicht das Théâtre Benno Besson. Den Gastgebern fehlten die Auszeichnungen Bachelor und Master. Sie hatten nur eine Lehre gemacht (Jacqueline als Krankenschwester, Henri als Schriftsetzer), dann geheiratet, drei Töchter zur Welt gebracht und ein stilles, un„schein“bares Leben geführt. Gleichwohl wird die Begegnung mit ihnen zur Lehre und zum Geschenk. <

 

Ein eigentümlicher Glanz geht vom Ehepaar Cornaz aus. Jacquelines Gesicht zeigt einen Ausdruck, den man heute fast nicht mehr findet; auch das Wort ist verlorengegangen; es heisst: „gütig“. – Im Lauf der Jahrzehnte wurden die Züge der Frau offensichtlich durch ihre tätige, liebevolle Lebenshaltung geformt. Dazu Roland Zistler, Psychologe und Drehbuchautor in Oslo: „Ab vierzig ist jeder für seinen Gesichtsausdruck verantwortlich.“

 

Die Frage der Berufswahl stellte sich für Jacqueline nicht. Mit 14 Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung. Da nahm sie sich vor: „Wenn ich genese, werde ich Krankenschwester!“

 

Bis zur Heirat übte sie den Beruf aus. Dann musste sie ihn ruhen lassen, weil damals keine Teilzeitarbeit im Spitaldienst erlaubt war. Aus diesem Grund widmete sie sich nun dem Haushalt, der Familie und der Erziehung der drei Töchter. Als die aber flügge waren, kehrte Jacqueline nach einem Auf­frischungs­kurs zur Pflege zurück. Und unmerklich wurde die Güte zu ihrem Charakterzeichen.

 

Franz Grillparzer hat bei Kaiser Rudolf II. (1552–1612) diese Lebenshaltung ans Licht gehoben:

 

Rudolf: Ich schmelze Gold in jenem Tiegel.

Weisst du, wozu? – Es hört uns niemand, mein’ ich –

Ich hab’ erdacht im Sinn mir einen Orden,

Den nicht Geburt und nicht das Schwert verleiht,

Und Friedensritter soll die Schar mir heissen.

Die wähl’ ich aus den Besten aller Länder,

Aus Männern, die nicht dienstbar ihrem Selbst.

Nicht aussen auf der Brust trägt man den Orden,

Nein, innen, wo der Herzschlag ihn erwärmt,

Er sich belebt am Puls des tiefsten Lebens.

Mach auf dein Kleid! – Wir sind noch unbemerkt. –

 

(Er hat aus der Schublade des Tisches eine Kette mit daranhängender Schaumünze hervorgezogen.)

 

Der Wahlspruch heisst: Nicht ich, nur Gott – Sprich’s nach!

 

Julius (der sein Kleid geöffnet und sich auf ein Knie niedergelassen hat): Nun denn: Nicht ich, nur Gott – und Ihr!

 

Rudolf: Nein, wörtlich.

 

Julius: Nicht ich, nur Gott.

 

In Yverdon wurde Jacqueline zu einem Leben nach diesem Wahlspruch erzogen. Das Elternhaus war freikirchlich. Die „Eglise libre“ (heute vereint mit der reformierten Kirche) grenzte sich ab von der Staatskirche, weil sie deren Verflechtung mit Welt und Politik als Verrat empfand; dabei berief sie sich auf Christus:

 

Er aber sprach zu ihnen: So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!

(Lukas 20, 25)

  

Die Aufforderung zum freikirchlichen Gemeindedienst und zum Dienst am Mitmenschen führte Jacqueline dazu, „mit andern zusammen“ (avec un groupe) – das zu betonen ist ihr wichtig – einen Kinderhort und eine Jugendbibliothek ins Leben zu rufen. Auch der Cinéclub von Yverdon ging, mit Beteiligung des Ehemanns, auf ihre Initiative zurück.

 

Damit man in ihrer Stadt wisse, wer der Mann sei, dessen Statue vor dem Schloss steht, vertiefte sie sich ins Leben und Wirken von Johann Heinrich Pestalozzi und brachte am Ende eine Ausstellung und ein Buch über den Pädagogen heraus. Denn in Yverdon hatte der Menschenfreund zwanzig Jahre lang ein Erziehungsinstitut geleitet, dem rund 150 Schüler aus dem In- und Ausland angehörten.

 

Louis Vulliemin, Institutsschüler von 1805–1807, beschreibt in seinen „Souvenirs“ den damaligen Unterricht:

 

Die Grundbegriffe der Geographie wurden uns vor Ort beigebracht. Unser Spaziergang führte zunächst in ein enges Tal in der Nähe von Yverdon, dem Tal, wo „Le Buron“ fliesst. Man liess es uns in seiner Gesamtheit sowie in seinen Einzelheiten betrachten, bis wir es richtig und vollständig erfasst hatten. Dann musste sich jeder von uns mit Lehm eindecken, der in Schichten an einer Flanke der Talmulde zu finden war, und wir füllten damit grosse Körbe, die wir zu diesem Zweck mitgebracht hatten. Zurück im Schloss, wurden wir auf lange Tische aufgeteilt, und jeder von uns musste den ihm zugefallenen Teil des Tals, das wir soeben erforscht hatten, im Relief nachbauen. An den Tagen darauf neue Exkursionen, neue Erforschungen, so dass unsere Arbeit mit jedem Mal umfangreicher wurde. So ging es weiter, bis die Untersuchung des Beckens von Yverdon abgeschlossen war. Dann, ja dann gingen wir vom Relief zur Landkarte über, also erst, nachdem wir ein Gefühl dafür entwickelt hatten.

 

Ist nun Jacqueline Cornaz’ Ausdruck von stiller Güte geprägt, so manifestieren sich bei ihrem Mann Henri Engagement und Energie. Das Spiel der Hände verrät nicht nur den Wunsch zum Zupacken, sondern auch zum Gestalten; nicht nur innere Beteiligung, sondern Sinn für Proportion. So hat denn alles, was er sagt, eine besondere Fasslichkeit.

 

Als Probe dafür kann die Erzählung dienen, wie er in seiner Deutschschweizer Zeit nach der Schriftsetzerlehre am Schauspielhaus Zürich „Den guten Menschen von Sezuan“ in der Uraufführungsinszenierung erlebte. Zur Vorstellung an der Pfauenbühne kam er unter anderem durch den Jugendfreund > Benno Besson, der, wie Henri, aus Yverdon stammte, jetzt aber als Assistent von Brecht arbeitete.

 

Die Kunsterlebnisse, von denen Henri Cornaz mit Verehrung und Dankbarkeit erzählt, haben sich ihm tief eingeprägt; auch die Konzerte mit Gegenwarts­musik unter Beteiligung von Ernest Ansermet und > Victor Desarzens. – Empfänglichkeit ist bei diesen Erinnerungen zu spüren, und Offenheit, gewiss, aber vor allem: Hunger … Hunger nach Substanz, den nur die Kunst stillen kann (wie wir wissen).

 

Für Henri kompensierte Kunst die Tatsache, dass er die väterliche Druckerei übernehmen musste und deshalb nicht studieren durfte. Am Ende aber zeigt sich jetzt beim 70-Jährigen, dass es das Schicksal gut mit ihm gemeint hat. Um die Liebe zur Kunst lebendig zu halten, führte es ihn am Ziel vorbei, gleich wie Roland Donzé, der für die Literatur geschaffen war und nach der Emeritierung auch ein fünfbändiges Romanwerk hervorbrachte, an der Universität Bern aber als Professor in die trockene französische Sprachwissenschaft abgedrängt worden war. Im Alter jedoch nannte er es „ein Glück“, dass es ihm verwehrt geblieben war, „die Geliebte zu Gattin zu machen“.

 

So blieben die Künste für Jacqueline und Henri Cornaz nicht Berufsfeld, sondern Sehnsuchtsort und Lebensquell – anstatt Lebensqual (wie Literatur am Wirtschaftsgymnasium für den Deutschlehrer). Jede Woche verliessen sie Yverdon, um eine Aufführung zu besuchen, in Lausanne, in Genf, in Neuenburg, und jeden Sommer besuchten sie das Festival von Avignon. Daneben lasen sie eifrig: „Wir sind so ziemlich über alles auf dem laufenden, was in der Westschweiz herauskommt“, sagen sie 1990 bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“.

 

Der Kulturphilosoph Egon Friedell hat formuliert, was wir von ihnen lernen können:

 

Was den Dilettantismus anlangt, so muss man sich klarmachen, dass allen menschlichen Betätigungen nur so lange eine wirkliche Lebenskraft innewohnt, als sie von Dilettanten ausgeübt werden. Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmässig betrieben werden, etwas im übeln Sinne Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel.

 

So wird das Porträt von Jacqueline und Henri Cornaz in unserer durch­akademisierten und durchprofessionalisierten Epoche zum Plädoyer für eine Renaissance des Dilettantismus. Lerne!

 

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