Jean Lob: Strafverteidiger.

21. Dezember 1927 –

 

Aufgenommen am 14. April 2014 in Lausanne.

https://www.plansfixes.ch/films/jean-lob/

 

> Durch vier Qualitäten ragt Jean Lob aus dem Gros der Rechtsanwälte heraus, und sie erklären zusammen, aber auch einzeln, die Aufnahme in die „Plans Fixes“: 1. Jean Lob war sein Leben lang Strafverteidiger. 2. Er plädierte noch bis gegen neunzig vor Gericht, weil das die Klienten wünschten. 3. Zwischen Kanzlei, Tribunal, Gefängnis und Tennisplatz, kurz, in Lausanne, wo es nur entweder hinauf- oder hinuntergeht, war er stets mit dem Velo unterwegs. 4. Fünfmal akzeptierte der europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Rekurse und zwang damit die Schweizer Justiz, ihre Urteile zu revidieren. <

 

Gerade bevor Napoleon die Schweiz eroberte und die alte Eidgenossenschaft wegfegte, inspizierte Karl Viktor von Bonstetten als „Syndikator“ noch das Tessin. Die Resultate publizierte er 1800 in Kopenhagen, dem dänischen Exil. Heinrich Zschokke fasste sie 1842 zusammen:

 

In der einzigen Landvogtei Locarno, und bei ihrer Bevölkerung von 17’000 Seelen, fand er im Durchschnitt jährlich 1000 Prozesse im Gange, und darunter vier- bis fünfhundert Kriminalfälle. Welches zivilisierte Land hat ähnliche Beispiele aufzuweisen? [Fussnote: „Seit der Befreiung des Kantons aus der Knechtschaft der Eidgenossenschaft hat eben dieser Bezirk Locarno, der jetzt 20’000 Seelen zählt, kaum noch 160 gerichtlich anhängig gemachte Klagen wegen Vergehungen gegen Personen und Eigentum.“]

 

Nachwirkungen dieser traurigen Zustände sind noch heutigen Tages die leidenschaftliche Streit- und Prozesssucht der Gemeinden gegen Gemeinden, der Familien gegen Familien. Zahllose Haushaltungen sind dadurch schon zugrunde gerichtet worden, und die Einkünfte vieler Gemeinden gehen zum Teil für Bezahlung von Advokaten, Reisegeldern und Deputationen auf. Es sind wenig Talschaften oder Dörfer, in welchen nicht Advokaten wohnen, oder Leute, die deren Geschäft treiben. [Fussnote: „Im Jahr 1830 zählte man in dem kleinen Lande 182 Advokaten und Notare. Bonstetten fand allein im Städtlein Locarno, zu seiner Zeit, 33 Advokaten ansässig und nebenbei 37 Wirts- und Schankhäuser. Treffliche Mittel, den Volkswohlstand zu befördern!“] So ist’s kein Wunder, wenn die Tessiner selber gestehen, dass Neid aller untereinander und Zwietracht das moralische Erbübel ihres Volks sei.

 

Wie anders gestaltete sich die Lage im Kanton Waadt, als Jean Lob Anfang der 1950er Jahre zum juristischen Staatsexamen antrat! Auf der Liste standen zwei Kandidaten. Der eine zog sich indes noch vor den Prüfungen zurück. „Sie können sich denken“, erklärt Jean Lob mit einem kleinen Lächeln, „dass man mich nicht durchfallen lassen konnte. Der Erfolg des Examens war folglich nicht allein mein Verdienst.“ Wobei: Verdienst gab es in Lausanne sozusagen nicht. Jean Lob eröffnete wohl eine Kanzlei, doch Arbeit – und das heisst in seinem Fall: Fälle – fand er in der Kantonshauptstadt nicht, sondern erst 36,1 km weiter nördlich, in Yverdon. In diesem Städtchen existierte kein einziger Advokat. Um die Einkünfte zu steigern, fuhr Jean Lob daneben noch jeden Samstag aufs Plateau nach Sainte-Croix hinauf (die dortigen Verhältnisse schildert der Chansonnier > Michel Bühler). Doch als er eine Wohnung gefunden und den Mietvertrag unterschrieben hatte, fiel er in eine mehrtägigige Depression („die einzige meines Lebens – bis jetzt!“, sagt der 86-Jährige): „Ich mochte Yverdon nicht“, erklärt er; korrigiert sich aber gleich: „Ich liebte Lausanne.“ (Gleich ging es dem Politiker > Marx Lévy, der, einmal niedergelassen, von der Stadt am See auch nicht mehr loskam.)

 

Jean Lob korrigierte sich in der Folge noch ein paarmal. Versatilität ist eben eine anwaltliche Kerntugend; sie gehört aber auch in manch anderes Portfolio, sogar in das des Ingenieurs. Der Bau des Lötschberg-Basistunnels wäre nicht so reibungslos verlaufen, hätte nicht der Unternehmensleiter, Bauingenieur Franz Kilchenmann, seinen Untergebenen immer wieder eingehämmert: „Es ist nicht verboten, gescheiter zu werden!“ Nach diesem Motto trennten sich auch Jean Lob und seine Frau in aller Liebe: „Ich habe sogar noch die Scheidungsurkunde abgefasst.“

 

Heute, das heisst zum Zeitpunkt der Aufnahme, lebt der Hochbetagte im selben Haus wie seine jüngere Tochter und die beiden Enkelinnen (12 und 19), und die ältere Tochter kommt jeden Tag in die Kanzlei, um das Sekretariat zu versehen – ungeachtet dessen, dass die Versatilität den Vater seinerzeit auch in ein Verhältnis mit einer verurteilten Betrügerin geführt hatte, die seine Klientin gewesen war. Als „die schöne Frau“ (Jean Lobs Worte) die Strafe abgebüsst hatte, nahm sie wieder Kontakt mit dem Anwalt auf und schenkte ihm sich und ihre Liebe. Nach zwei Jahren bemerkte er, dass sie rückfällig geworden war, und trennte sich von ihr. „Erst geschaut, dann getraut“, sagt der Volksmund. Es ist nicht verboten, gescheiter zu werden. Jean Lob: „Ich war bereit, vor Gericht als Persönlichkeitszeuge auszusagen. Denn mir gegenüber war sie stets anständig gewesen.“

 

Als Verteidiger akzeptiert Jean Lob ein Urteil nur, wenn er es in Ordnung findet. Sonst macht er Rekurs. Wenn es sein muss bis zum europäischen Gerichtshof. „Es geht ums Prinzip“, sagt er, „und da schaue ich nicht auf die Kosten, auch nicht aufs Strafmass, selbst wenn eine Busse nur 120 Franken beträgt. Ist sie juristisch anfechtbar, gehe ich vors Bundesgericht, und wenn das Urteil dort nicht aufgehoben wird, weiter nach Strassburg.“

 

So brachte sich Jean Lob mit dem „Fall Belilos“ in die Fachliteratur, in die Ausbildungsprogramme der Jusstudenten und, zur Krönung, noch in die französische Wikipedia unter dem Titel „Affaire Belilos contre Suisse“:

 

Zum Zeitpunkt des fraglichen Tathergangs studierte Marlène Belilos, Schweizerin, in Lausanne. Im April 1981 nahm sie an einer Demonstra­tion teil, die ohne Genehmigung von der Bewegung „Lôzane bouge“ organisiert worden war, um die Errichtung eines autonomen Jugend­zentrums in der Stadt zu fordern. Im Mai 1981 verhängte die Polizeikommission der Stadtverwaltung, die in Abwesenheit von Frau Belilos tagte, gegen sie eine Geldstrafe von 200 Schweizer Franken [recte: 120]. Sie focht die Busse mit der Begründung an, dass sie gegen Art. 6 EMRK verstosse, da eine solche Kommission kein unabhängiges und unparteiisches Gericht sei. Nachdem alle nationalen Rechtswege ausgeschöpft waren, wandte sie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und gewann ihre Sache. Das Urteil zwang die Schweiz, ihre Gesetzgebung zu ändern.

 

Ohne den streitfreudigen Anwalt Jean Lob wäre Marlène Belilos (Psychoanalytikerin und Buchautorin: „Freud and War“, Verlag Taylor and Francis 2016) nie in die Rechtsgeschichte eingegangen.

 

Les Mémoires de Maigret

 

Wenn man von dem Flair eines Polizisten spricht, oder von seinen Methoden, seiner Intuition, habe ich immer das Bedürfnis, zu kontern:

„Was ist mit dem Gespür Ihres Schusters oder Konditors?“

Beide haben eine jahrelange Lehrzeit hinter sich. Jeder kennt sein Handwerk, alles, was mit seinem Beruf zu tun hat.

 

Wenn es indessen nicht um Schuhe oder Backwaren ging, sondern um Verteidigung in Strafsachen, lautete die erste Adresse in Lausanne durch mehr als sechzig Jahre hindurch:

 

Jean Lob, dr en droit, acocat membre OAV

Avenue Antoine-Michel-Servan 16

1006 Lausanne

 

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