Pascal Thurre: Journalist. Im Namen des Traums.

22. Dezember 1927 –

 

Aufgenommen am 7. Februar 2005 in Saillon.

Pascal Thurre – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Pascal Thurre zählt 94 Jahre. Die Tochter Manuela schreibt, dass er sein Alter lieber nicht erwähnt wissen möchte. Er ziehe es vor zu sagen, er sei ein Sternteilchen im Universum. Das Telefon nehme er noch ab. Um 17 Uhr habe man die grösste Chance, ihn zu erreichen. Umgekehrt verhält es sich mit seinem Filmporträt in den „Plans Fixes“: Da wird der Zuschauer erreicht – und zwar von einem munteren 76-jährigen Mann, der vom Wallis aus lebensvoll seine Botschaft der Mitmenschlichkeit in die Welt schickt. <

 

1845 wird im Aostatal Joseph-Samuel Farinet geboren. Irgendwann kommt er ins Wallis und beginnt, falsche Zwanzigrappenstücke in Umlauf zu bringen. 1871 wird der 26-Jährige in Martigny wegen Falschmünzerei zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Er bricht mehrmals aus. In Saillon versteckt ihn ein Einheimischer. Davon bekommt die Polizei Kunde, und Farinet muss weiterflüchten. Am 17. April 1880 wird sein Körper in der Schlucht der Salentse gefunden. Der Obduktionsbericht nennt als Todesursache Schädelbruch. Farinet wurde 35 Jahre alt.

 

Ein halbes Jahrhundert später, 1932, publiziert Charles-Ferdinand Ramuz den Roman „Farinet ou la Fausse Monnaie“. Durch ihn findet der Mythos vom Robin Hood der Alpen Verbreitung über das Wallis hinaus. Und sieben Jahre später erhält Farinet seine endgültige Gestalt: Es ist die des 29-jährigen Jean-Louis Barrault. Er spielt den freiheitsliebenden Volkshelden in Max Hauflers Film „Farinet ou l’Or dans la montagne“.

 

Als der Film erscheint, zählt Pascal Thurre zwölf Jahre. In Saillon, wo er aufwächst, ist die Erinnerung an Farinet noch lebendig. Der Nachbar, der ihm den letzten Unterschlupf bot und mit ihm im selben Bett schlief, schildert, wie er war. Die Phantasie des Jungen erhält dadurch reiche Nahrung. Am herben Ort geht es ihm wie > Marie Métrailler auf der andern Talseite: Die beiden führen ein Leben im Geist. Und der ist mächtiger, vielfältiger, bedeutungsreicher als die Banalität des Alltags.

 

Das neuplatonische System der Gnosis – von der Kirche stets verfolgt, verurteilt und unterdrückt – erklärt, dass es drei Sorten von Menschen gebe: Einmal die „Pneumatiker“. Sie sind durch einen Funken des göttlichen Geistes (Pneuma) wesenhaft mit Gott verbunden und heben sich ab von der Masse der nicht „erkennenden“, sondern bloss „gläubigen“ „Psychiker“, die eine dem Diesseits zugewandte Seele (psyché) besitzen. Die „Hyliker“ schliesslich sind ganz an die Materie (hyle) gebunden, haben keinen Sinn für die höheren Dinge und erfassen sie nicht.

 

Pascal Thurre jedoch, der Träumer (um nicht zu sagen: der „Pneumatiker“), sah sich berufen, das Evangelium den Heiden zu bringen. Als ältester von fünf Geschwistern kam er, wie damals bei den frommen Walliser Familien üblich, zu den Jesuiten in die Missionsschule. Dort lernten er und seine Kameraden den Kadavergehorsam. Wenn der Priester frühmorgens den Schlafsaal betrat und in die Hand klatschte, mussten alle „mit dem Panthersprung“ aus dem Bett schnellen. Um das Los des Missionars bewältigen zu lernen, mussten sie sich durch Kasteiung abhärten. Einmal pro Woche trugen sie ein härenes (stechendes) Hemd auf der Haut und am Arm einen Eisendraht, der einschnitt bis aufs Blut.

 

Pascal Thurre träumte von Neuguinea als Wirkungsstätte. Doch seine Aufsätze waren so gut, dass ihm die Mönche sagten:„Mit deinen Noten wirst du dem Orden als Sprachlehrer hier besser dienen.“ Unabsichtlich legten sie auf diese Weise dem jungen Mann der Austritt nahe – und den Eintritt in die akademische Welt. Er studierte in Strassburg Literatur, Philosophie und Theologie, darauf absolvierte er in Köln die Journalistenschule, und mit ihr entschied sich das Los. Pascal Thurre erkannte seine Berufung im Journalismus. Er sah sich geschaffen, die Wirklichkeit durch das gedruckte Wort zu vermitteln.

 

Jahrzehntelang schrieb er jetzt übers Geschehen im Wallis. Einerseits in der Redaktion einer Lokalzeitung, anderseits als Korrespondent für die schweizerische Depeschenagentur, „La Suisse“ von Genf, „Le Progrès“ von Lyon und „Le Dauphiné Libéré“ von Grenoble. Er brachte die aufsehener­regenden Bergunfälle in den Aushang. Pro Titel auf dem Aushang bekamen die Journalisten eine Prämie von zehn Franken. Darum hatte es sich im Wallis eingespielt, die Toten zu stückeln. Sie wurden im Kühlraum aufbewahrt und in zwei, drei Schüben freigegeben: „Weitere Opfer geborgen!“

 

„Wie konnten Sie das ethisch verantworten?“, fragt die Interviewerin Roselyne Fayard. „Ach, Tagesjournalismus ist so ephemer!“, entgegnet der alte Mann. „Um 7 Uhr kam ‚La Suisse‘ an den Kiosk, und um 10 Uhr wurde der Salat damit eingewickelt.“ Bücher, meint er im Film, hielten länger. Darum hat er sich auf Bücherschreiben verlegt. Und in der Tat: Sein 2012 erschienenes Bekenntniswerk „La grande ardoise“ ist noch heute im Angebot. Die Librairie Payot hat den Inhalt zusammengefasst:

 

La Grande Ardoise: eine Schieferplatte, die aus diesem kathedralen­ähnlichen Tal gezogen wurde. Wir befinden uns in der Region Haut-Rhône in Saillon, wo sich die Colline Ardente mit ihren drei Rebstöcken erhebt: „Der kleinste Weinberg der Welt“. Man erreicht ihn über einen Pfad, der mit Glasfenstern gesäumt ist. Sie stellen die menschlichen Werte dar. Der Initiationsweg endet an einer Tafel, auf der die Pilger mit Kreide ihre Gedanken oder das Wort, über das sie nachdenken möchten, niederschreiben. Eine Erinnerung an einen verstorbenen Autor oder ein von der Zeit unterminiertes Zitat. Der Satz, den man der ganzen Welt, aber vor allem sich selbst zurufen möchte. Die „Vigne à Farinet“, benannt nach einem Banditen, der aufgetaucht war, um dieses Land durcheinanderzubringen, lädt zum Bekenntnis ein. Tausende von Persönlichkeiten und Anonymen kommen, um auf die Schiefertafel zu schreiben, was man über unsere Zeit, das Leben, die Liebe, das Geld, den Tod, den Menschen und sogar über Gott denken soll. Pascal Thurre hat die Botschaften über dreissig Jahre lang gesammelt. Er präsentiert eine Auswahl davon in diesem Buch über eine ungewöhnliche Philosophie ... auf dem Pfad zwischen der Hoffnung und dem Nichts. Die Rebe … mehr als eine Rebe ... ein Symbol ... ein Mythos. Eine Idee von Jean-Louis Barrault, Künstler in Paris und Winzer im Wallis. Der Mann, der Farinet ins Kino brachte, den gutherzigen Banditen, der [dem Film zufolge] in dieser Kulisse erschossen wurde. Persönlichkeiten aus der ganzen Welt bearbeiten den Weinberg mit seinen drei Rebstöcken. Die Schweizer Behörden haben ihn ins Grundbuch eingetragen mit seinem Mass nach dem goldenen Schnitt des Pythagoras, dem Symbol der perfekten Harmonie. Der Abbé Pierre und der Dalai Lama, die im Jahr 2000 Eigentümer des Anwesens wurden, haben das Plätzchen „Weinberg des Friedens“ getauft. Die „Pilger“, die ihnen jeden Tag nachfolgen, kommen wie sie hierher, um ihre Botschaften zu hinterlassen... zwischen der Hoffnung und dem Nichts.

 

„La grande ardoise“ hat 254 Seiten. Das Buch kostet 25 Franken. Man kann sich auch an den Ort selber begeben. Der Weg von Bern nach Saillon verlangt je nach Marschtempo 4 bis 5 Tage (von Zürich aus sind es 3 bis 4 Tage mehr). Daneben gibt es im Internet noch den Film mit Pascal Thurre. Er dauert 48 Minuten, und der ganze Mensch ist drin. Man kann ihn ohne Verzug herunterladen. Dann ist man bei ihm.

 

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