Jacques Hainard: Ethnologe – Konservator des ethnographischen Museums von Neuenburg.

 


2. März 1943 –

 

Aufgenommen am 11. Juli 1997 in Peseux.

Jacques Hainard – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Der Redefluss von Jacques Hainard ist mitreissend, lebendig und präzis. So stellt man sich eine Vorlesung vor. Und Vorlesungen hat Jacques Hainard auch gehalten, an der Universität Neuenburg im Fach Ethnologie. Doch wo er seine Sprache her hat? Vermutlich aus dem Bücherschrank der Eltern: „In der Vallée de la Brévine [dem Hochtal mit den kältesten Wintern der Schweiz] hatten viele Bauern eine Bibliothek.“ Da sieht man nur: Lesen bildet. <

 

Jacques Hainard ist im oberen Teil des Kantons Neuenburg aufgewachsen; im Weiler Les Prises, einem Ortsteil der Gemeinde Les Baillards. Er bestand aus drei Bauernhöfen und einem Schulhaus. Les Prises war der Ort seiner Jugend. Ort! Der Ethnologe betont das. Ein grosser Teil des heutigen Elends rühre davon her, meint er, dass wir uns in Unorten aufhalten und bewegen müssten – also in Supermärkten, Flughäfen, Neubauvierteln mit uniformen Blöcken und Einfamilienhäusern – in Konstellationen mithin, die kein individuelles Gepräge haben und deswegen auch den Individuen, die in ihnen verkehren, keinen Halt geben.

 

Einen „Ort“ bildete für Jacques Hainard ebenfalls die Gesamtschule. In ihr begegnete er fabelhaften Lehrerinnen aus dem Wallis und einem fürsorglichen Zusammenleben von gross und klein. Besonders begeisternd waren die Nachmittage. Während die Kinder im handwerklichen Unterricht lernten, Objekte aus Stoff und Papier, Wolle und Karton hervorzubringen, wurde ihnen vorgelesen. „Beim ‚Grand Maulnes‘ habe ich zum ersten Mal die Liebe erfahren“, erinnert sich der 53-jährige. „Ich kann das Buch heute noch auswendig, obwohl ich es selber nie gelesen habe.“

 

Als er in der Bibliothek der Eltern auf „Thérèse Raquin“ von Emile Zola stiess, ging ihm auf, dass es neben der Kinderliteratur auch eine Literatur für Erwachsene gebe. Und der wandte er sich nun zu. Dank der Guilde du Livre, begründet von > Albert Mermoud, kamen regelmässig wertvolle Bücher ins Haus. „Die Russen haben wir alle verschlungen, Dostojewski, Tolstoi …“

 

Die Mutter ermunterte den Sohn, die Volksschule zu verlassen, und sorgte dafür, dass er Klavierstunden bekam, während ihn der Vater lieber als Nachfolger auf dem bäuerlichen Hof gesehen hätte. Zu dieser Zeit bekam Jacques Hainard erstmals am eigenen Leib zu spüren, was Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht bedeutet. Die Mutter hatte für ihn Golfhosen angeschafft – damals der letzte Schrei. Doch als der Sohn mit ihnen die Schule betrat, wurde er von den Kameraden verprügelt. „Eine gute Lektion für den späteren Ethnologen“, konstatiert Jacques Hainard.

 

Auf Ethnologie kam er durch einen Lehrer am Gymnasium von Fleurier. Jean-Claude Muller, gebürtig aus dem Val de Travers, beeindruckte Jacques Hainard durch die Weite des Blicks, mit der er die Lehrgegenstände behandelte. Der Ethnologe kam später an die Universität Montreal und lehrte dort als Professor für Anthropologie.

 

Jacques Hainard aber schrieb sich an der Universität Neuenburg ein und belegte die Vorlesungen von Professor Jean Gabus, der auch das ethno­graphische Museum der Stadt Neuenburg leitete und die Szene, wie man umgangssprachlich sagt, aufzumischen begann durch Ausstellungen, die den Rahmen der traditionellen wissenschaftlichen Systematik verliessen und transdisziplinäre Verknüpfungen herstellten – und das zu einer Zeit, wo das Wort Transdisziplinarität noch gar nicht existierte. Er war es, der die Textilkünstlerin > Jeanne-Odette Evard aus dem Neuenburger Weiler Le Cerneux-Péquignot einlud, sich an der Ausstellung „Polen – Theater und Gesellschaft“ zu beteiligen.

 

1973 berief Jean Gabus seinen Schüler, der zwei Jahre als Lehrer an der Handelsschule Neuenburg unterrichtet, dann zwei Jahre am Völkerkunde­museum Basel (heute Museum der Kulturen) gearbeitet und zwei Jahre in Zaire geforscht hatte, als Oberassistent-Lektor (directeur des travaux) ans Institut zurück. Dort hielt er Vorlesungen und betreute die studentischen Arbeiten, bis er 1980 die Leitung des ethnographischen Museums Neuenburg übernahm und von der Universität mit einem Lehrauftrag für Ethnomuseo­graphie betraut wurde.

 

Für die Ausstellungen übernahm Jacques Hainard von seinem Lehrer das Konzept des „objet témoin“: Der Gegenstand symbolisiert die Welt, aus der er kommt. Um ihn aber vernehmlicher zum Sprechen zu bringen, begann ihn der neue Konservator in eine Erzählung einzubetten. „Von heute an machen wir nur noch thematische Ausstellungen“, deklarierte er. „Wir unterlegen dem Verlauf der Exponate eine Dramaturgie. Wir verbinden die Gegenstände von drüben mit Gegenständen von hier, die Gegenstände von einst mit Gegenständen von heute. Damit brechen wir die Denk- und Sehgewohnheiten auf, und durch Verunsicherung verschaffen wir dem Betrachter neue Einsichten.“

 

Mit diesem Konzept sind die Stichwörter, die Bertolt Brecht für die epische Form des Theaters aufgelistet hat, in Jacques Hainards Dramaturgie für die Ausstellungen des ethnographischen Museums Neuenburg eingewandert:

 

Die Bühne erzählt – macht den Zuschauer zum Betrachter – weckt seine Aktivität – erzwingt von ihm Entscheidungen – vermittelt ihm Kenntnisse – es wird mit Argumenten gearbeitet – der Betrachter wird zu Erkenntnissen getrieben – der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung – der veränderliche und verändernde Mensch – gezeigt wird die Welt, wie sie wird – was der Mensch muss – seine Beweggründe – das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken.

 

Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. Das ist grosse Kunst: da ist nichts selbstverständlich.

 

Indem Jacques Hainard am ethnographischen Museum Neuenburg diesen Ansatz realisierte, machte er die Ausstellungskunst zu Gefühls- und Gedankenerwei­terungs­kunst.

 

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