Solange Ghernaouti: Doktor in Informatik. Die Cyber-Frau, eine Pionierin.

5. Dezember 1958 –

 

Aufgenommen am 10. Dezember 2020 in Saint-Sulpice.

Solange Ghernaouti – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Solange Ghernaoutis Fach hat, wie man sich in der Corona-Zeit zu sagen angewöhnte, „exponentiell“ an Bedeutung gewonnen. Anfangs etwas für Nerds (Solange Ghernaouti stieg wissenschaftlich mit dem Thema Netzsicherheit in der Fernsprechbranche ein), ist heute die Dringlichkeit von Cyber Security und damit der Schutz vor Sabotage durch Staaten und kriminelle Organisationen bei den Usern angekommen – auch (und besonders) bei den Büroangestellten der Gemeindeverwaltung von Rolle am Genfersee, deren Computer vor wenigen Monaten gehackt wurden. <

 

Bei einem Drittel der 360 Westschweizer Persönlichkeiten, die es im letzten halben Jahrhundert in die „Plans Fixes“ geschafft haben, bildete sich schon im Jugendalter der Vorsatz, das zu werden, was sie wurden (Schriftsteller, Cineast, Musiker, Schauspieler). Bei der Karriere der Mehrheit hingegen „ergab es sich“. Doch als sie des Platzes gewahr wurden, an den sie Zufall und Schicksal gestellt hatten, nahmen sie das Ergebnis der höheren Fügung mit Energie und Freude an und erkannten: „Siehe, es war gut so“.

 

Etliche waren „Comeback Kids“, also Leute, die sich nach einem Scheitern wieder aufrappeln konnten. Andere gehörten zu den Menschen, die erst mit einer „Peterschen Arabeske“ zu Winnern wurden, wie etwa Hans Koblet, der spätere Professor für medizinische Virologie an der Universität Bern. Vorgestellt hatte er sich, Schachgrossmeister zu werden. Doch als er erkennen musste, dass das Talent dafür nicht ausreichte, korrigierte er das Ziel und nahm sich vor, in seinem Haus die grösste Schachbibliothek der Schweiz, wenn nicht Europas, zu vereinigen. Das gelang ihm. Und mit diesem Umweg schaffte er es, sich gleichwohl in der Schachwelt seinen Namen zu machen.

 

Ähnlich verhielt es sich mit Werner Säuberli, dem legendären Deutschlehrer am Berner Neufeld-Gymnasium: „Als junger Mensch war Philosophie für mich das Höchste, und ein Professor der Philosophie kam gleich nach dem lieben Gott. Doch als ich zu studieren begann, musste ich einsehen, dass ich kein Heidegger bin. Meine Begabung reichte nicht aus, um eine eigenständige Philosophie zu schaffen. Da entschied ich: ‚Aut Caesar – aut nihil‘ [entweder Caesar oder nichts], und verzichtete darauf, ein ‚Auch-Professor’ zu werden.“

 

Falls hinter dieser Entscheidung Berechnung stand, ist sie aufgegangen. Bei jedem, der mit Säuberli zu tun hatte, bildete sich nach kurzer Zeit die Überzeugung: „Der gehört eigentlich an die Uni!“, und seine Überlegenheit stach am Gymnasium noch viel stärker hervor als unter den Auch-Professoren an der Universität. Und wenn es je die Aufgabe des Gymnasiums war, in jungen Begabungen durchs Vorbild Sehnsucht zu wecken nach einem Leben ausserhalb der Höhle „im wahren Licht“, dann hat Säuberli diese Funktion für Generationen von bernischen Gymnasiasten und Lehramtskandidaten erfüllt. „Jede Deutschstunde ist ein Fest des Geistes“, pflegte er zu sagen. Er bekannte er sich zur sokratischen Schule (der Lehrer macht sich klein), nicht zur aristotelischen (der Lehrer plustert sich auf) und verband seinen blitzenden Intellekt mit burschikoser Leutseligkeit und robustem Humor.

 

Solange Ghernaouti begann ihre Laufbahn mit der Diagnose „leichte Debilität“. Doch an der Schule litt sie unter diesem Verdikt nicht: „Es wirkte eher als Schutzmantel. Die Erwachsenen belästigten mich nicht in meinen Träumereien.“ Festgestellt wurde damals auch eine Dyslexie, zu der sich die Professorin noch heute bekennt. Als Kind habe sie nicht gewusst, welche Hand sie zum Schreiben brauchen sollte, erklärt sie.

 

In der Praxis zeigt sich das Problem laut Brockhaus 2006 „beim Erlernen des Alphabets, beim Buchstabenbenennen, beim Bilden von Wortreimen sowie bei der Analyse und Kategorisierung von Lauten. Das Lesen ist beeinträchtigt durch Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Wörtern oder Wortteilen, durch geringe Lesegeschwindigkeit, Startschwierigkeiten beim Vorlesen, Verlieren der Zeile im Text, ungenaues Phrasieren, Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in Wörtern. Die Sinnentnahme ist massiv beeinträchtigt. Gelesenes kann nicht oder nur schlecht wieder­gegeben werden. Dyslexie führt trotz unbeeinträchtigter Intelligenz häufig zu Schulversagen und beruflicher Unterqualifikation.“

 

Schulversagen und berufliche Unterqualifikation blieben Solange Ghernaouti erspart. Im Gegenteil: Sie machte mit 16 schon die Matur. Gern wäre sie jetzt Krankenschwester geworden. Doch für diese Ausbildung war sie um ein Jahr zu jung. Medizinisch-technische Assistentin aber, das ging. Auf diesem Gebiet kam sie zum ersten Mal mit der Welt der Informatik zusammen, und in ihr erwachte das Interesse an der Verbindung von Zahl und Wirklichkeit.

 

Zuerst aber machte sie noch eine Schlaufe. Sie schrieb sich fürs Medizin­studium ein und fiel dort nach dem ersten Jahr durch. “Macht nichts“, sagte sie als Comeback Kid. “Dann hole ich mir halt einen anderen Doktor.“ 1986 promovierte sie in Informatik und Telekommunikation. Und ein Jahr später, mit 29, wurde sie auf diesem Gebiet Professorin an der Universität Lausanne.

 

Cybersicherheit und Cyberkriminalität wurden ihre Schwerpunkte. Bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“ 2020 stehen diese Themen schon ganz oben in der Agenda, wie wir uns heute zu sagen angewöhnt haben. Und wenn Solange Ghernaouti erklärt, weit entfernte Ereignisse könnten angesichts der globalen Vernetzung bis zu uns durchschlagen, so ist das, wie wir seit dem 24. Februar wissen, nicht bloss Theorie, sondern Wirklichkeit.

 

Um aber die Bedrohung zu verstehen, muss man die Menschen verstehen, die das Instrument der Informatik verwenden. Diese transdisziplinäre und humanistische Sicht auf das Fach verdankt Solange Ghernaouti ihrem Kollegen > René Berger. Der Leiter des Kunstmuseums Lausanne machte der jungen Professorin klar, es sei höchste Zeit, das alte Denken zu verabschieden, welches die Phänomene durch Einteilen der Welt in Wissensgebiete isoliere und die Zusammenhänge zerschneide. Seiner Meinung nach muss die Unbeweglichkeit von Modellen, Gesetzen und Formeln ersetzt werden durch – sagen wir: biomorphe Konzepte, bei denen Entwicklung und Metamorphose im Zentrum stehen. Dieser Ansatz charakterisiert nun Solange Ghernaoutis Methode.

 

So verstanden, wird sich Transdisziplinarität nicht nur in der Horizontalen bewegen dürfen, sondern auch die Vertikale der Geschichte mitdenken müssen. Im Jahr 1793, wo am 21. Januar Ludwig XVI. hingerichtet wurde, am 22. Juli Robbespierre Konventspräsident wurde, am 17. September die „Terreur“ begann, am 16. Oktober Marie-Antoinette hingerichtet wurde, bat Karl Viktor von Bonstetten den Freund Johannes von Müller, den damals angesehensten Historiker, um einen Leseplan für den Sohn Karl. Es ging um die Frage: Wie soll sich ein junger Mensch auf die kommende Zeit vorberei­ten?

 

Johannes von Müller verfasste im November/Dezember von Wien aus eine weit ausgreifende Antwort. Einige seiner Sätze lesen sich, als wären sie an uns gerichtet:

 

Dein Karl studiert in Zeiten einer allgemeinen Erschütterung, deren Dauer und Folgen gleich ungewiss sind; in keinem Falle ist mir denkbar, dass ihre Oszillationen plötzlich sich sistieren sollten. Nun werden für den nächsten Zeitraum politische Ideen wichtig sein.

 

Karl braucht ein genaues Studium des Menschen, was in ihm ist, wozu er fähig, wozu er zu leiten ist. Notwendig ist auch die Kenntnis der im Guten oder Bösen ausgezeichneten Charaktere in der Geschichte. Sie ist es nicht bloss, um uns zu lehren, wie wir andere beurteilen und benutzen sollen, sondern auch zu eigner Bildung, die jetzt weit mannigfaltiger als vorhin sein muss. Denn von dem Hauptgrundsatz wirst du, denke ich, ausgehen: dass dein Sohn trachten muss, zu so vielerlei Dingen und in so mancherlei Lagen, als nur immer möglich ist, geschickt zu sein und selbst möglichst wenige Bedürfnisse zu haben.

 

Nun reduziert sich deine Frage dahin, wie er durch die Geschichte zu all dem sich bilden könne. Er braucht einen Begriff davon, wie die Menschen von der Familiengesellschaft [Stamm] in grössere [Organisationen] übergingen und von einem [Monarchen] oder durch den Rat der Vornehmsten [Aristokraten] oder nach dem persönlichen ausgedrückten Willen aller [Demokraten] sich regieren liessen; wie Eroberer entstanden und alles verwirrten; wie der allgemeinen Zerrüttung endlich durch die Vereinigung der ganzen gesitteten Welt unter einem Caesar Augustus geholfen wurde; wie und warum die Herrschaft eines einzigen, anstatt alles zu erhalten, alles in Verderben und Auflösung brachte; wie die Barbarei aufs Neue zu prädominieren anfing.

 

Schliesslich zu uns: Es mag die Welt sich umkehren, aber das soll nicht gesagt sein, dass mein Herz gegen meine Freunde sich verändere. Adieu!

 

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