Georges Borgeaud: Schriftsteller.

27. Juli 1914 – 6. Dezember 1998.

 

Aufgenommen am 18. Januar 1990 in Paris.

Georges Borgeaud – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Am Anfang des Films blickt Georges Borgeaud aus seiner Wohnung im 7. Stock der Rue Froidevaux 57 im 14. Pariser Arrondissement auf die Grabsteine des Montparnasse-Friedhofs hinab. Dort unten ruhen Charles Baudelaire, Simone de Bauvoir und Jean-Paul Sartre. Mit ihresgleichen ist der 76-jährige Schriftsteller in Kontakt gestanden. Jetzt bekennt er der Kamera: „Die Mittelmässigen haben mich immer gelangweilt. Hingegen die Unterhaltung mit den Grossen … die ist reich, substantiell … und einfach.“ <

 

Als die Fotografenlehrtochter > Suzi Pilet langweilige Ferien bei einer Tante im Unterwallis verbringen musste, suchte sie, so oft es ging, die Rhone auf. Der Fluss bildete mit seinen Steinen, Büschen, Bäumen, Strudeln, Läufen und Tümpeln eine ganze, in sich stimmige, faszinierende Welt. Auf dem Rückweg wurde sie eines Tages von einem freundlichen, überaus korrekten jungen Mann angesprochen: „Mademoiselle, Sie sind neu hier. Machen Sie Ferien?“ „Ich fotografiere die Steine der Rhone. Da, schauen Sie, ich habe ein paar Bilder bei mir.“ „Oh, das ist interessant! Darf ich Sie in dem Fall mit meinen Freunden bekannt machen?“ Auf diese Weise kam Suzi Pilet 1942 in Kontakt mit > Maurice Chappaz, > René-Pierre und > Corinna Bille. Sie bildeten mit zwei, drei weiteren die Bande der fahrenden Ritter (la chevalerie errante). Nach dem Krieg wurden sie berühmt und von den „Plans Fixes“ für Zeit und Ewigkeit festgehalten, gleich wie auch der junge Mann, der die Verbindung hergestellt hatte: Georges Borgeaud.

 

Er war damals noch niemand. Angehöriger der Schweizer Armee, aufgeboten zur Landesverteidigung 1939–1945: „Eine harte Zeit. Ich war immer in der Gruppe. Aber ich lernte schöne Gegenden kennen, etwa das Oberengadin!“ Von Beruf war er Buchhändler. In den Filialen von Payot in Basel, Zürich und Freiburg i. Ü. kam ein schmales Einkommen zusammen. Das Ersparte ermöglichte ihm nach dem Krieg den Sprung nach Paris. „Man konnte damals noch zu vernünftigen Preisen leben. Ein Café mit Croissant kostete 60 Centimes.“ Im „Flore“ sassen noch die Schriftsteller, und man konnte sich ihnen nähern. „Heute [1990] findet man dort nur noch Japaner und Appenzeller.“

 

Im Wechsel von stillem Rückzug und kontaktfreudigem Austausch erwuchs aus Tinte, Papier und Feder langsam ein mehrfach umgegossenes, am Ende aber auch mehrfach preisgekröntes Werk. Es besteht im wesentlichen aus drei autobiografisch geprägten Romanen, in denen Georges Borgeaud das geheimnisschwere Drama seine Kindheit und Jugend verarbeitet. Er kam 1914 als Kind einer ledigen Mutter zur Welt. Sie wollte ihm nie sagen, wer der Vater sei. Auf dem Sterbebett, Jahrzehnte später, liess sie sich nur den Vornamen entreissen: André. Georges Borgeaud zuckt die Schultern: „So haben viele geheissen …“

 

Der Kamera gesteht er jetzt: „Es ist schwer, ohne Vater aufzuwachsen.“ Zumal ihn die Mutter schmerzhaft verleugnete. Seit ihr eine ansehnliche Heirat gelungen war, durfte der Bub nicht mehr „maman“ zu ihr sagen, sondern musste sie „tante Ida“ nennen. Und die Mutter gab ihn auch gleich weg, in die Klosterschule von Saint-Maurice. Dort war er der erste Protestant, der je ins Internat aufgenommen worden war. Aber die Erziehung der Väter machte grossen Eindruck auf ihn, und noch als Jugendlicher trat er zum Katholi­zismus über.

 

Dank Saint-Maurice wurde er auch Schriftsteller, gleich wie die Kameraden Maurice Chappaz und > Jean Cuttat. Für die Mönche kam der Umgang mit Literatur dem Umgang mit Gott nahe. Sobald sie in einem Jungen eine ausgeprägte Sensibilität bemerkten, ermunterten sie ihn, das Talent auszubilden: „Du nimmst die Sachen tief. Das ist gut. Aber jetzt musst du eine Ausdrucksweise finden, die für sie stimmt.“

 

Georges Borgeaud liess sich in seinen Pariser Jahren von den Malern inspirieren: „Sie haben mit Farbe, Pinsel und Leinwand Konkretes vor sich. Und mit dem Konkreten rufen sie etwas hervor. Das ist mein Ideal. Der Schriftsteller, der mit nur Wörtern jongliert, hat es zu leicht. Er verliert sich im Ideologischen und Abstrakten. Für mich aber zählt die Wahrheit der Sachen.“ Die Auffassung des 76-jährigen Schriftstellers deckt sich mit der des 78-jährigen Goethe: „Das unmittelbar sichtlich Sinnliche dürfen wir nicht verschmähen, sonst fahren wir ohne Ballast.“ Ein Schiff ohne Ballast kann nicht Kurs halten. Und ein Text ohne „unmittelbar sichtlich Sinnliches“ ist in Georges Borgeauds Augen blosse Spielerei. Er kann zwar schön sein, hat aber keinen Tiefgang.

 

Georges Borgeaud  findet Halt an den Sachen: „Italien, das bedeutet zunächst einmal Spaghetti, das ausgezeichnete Gericht der armen Leute. Pasta in allen Formen, Ravioli, Tortellini – und dazu ein tiefdunkler, ins Violette spielender Wein … da liegt die wahre Seligkeit!“

 

Einer meiner Erzieher hatte mir erklärt, dass dies das Erkennungs­zeichen der Melancholiker sei, von denen ich das Glück und das Unglück hatte, einer zu sein. Dieser Erzieher war einer der wenigen „Väter“, die ich hätte haben können, aber natürlich entglitt ich ihm, sobald er den Platz des Unbekannten einnehmen wollte. Ich liebte ihn für sein Herz, seine Intelligenz und dafür, dass er mir zuerst Gott und dann das Leben offenbarte. Er war es, der in mir eine kontemplative Natur entdeckte und mich zum Kloster führte. Ich respektierte ihn auch dafür, dass er Schwierigkeiten hatte, seinen religiösen Glauben mit seiner Leidenschaft für das Leben in Einklang zu bringen. Er war schwer zu fassen; er war das, was ich bin. Er war in einige meiner Geheimnisse eingedrungen und hatte Licht in meine Dunkelheit gebracht, vielleicht weil er darin die lieben und verabscheuungswürdigen Schwächen erkannte, die auch die seinen gewesen waren.

 

Eines Tages sagte er zu mir, was ich nie vergessen habe, und zwar fast wortwörtlich: „Jean, ich sehe, wie Freude dein Gesicht erhellt und fast gleich darauf Trauer es verdunkelt. Du hast die Verletzlichkeit des Wassers.“ Das war eine metaphorische Sprache, aber ich kam aus dem Land des Sees und kannte seine plötzlichen und wechselhaften Stimmungen. Endlich gab mir jemand eine Oberfläche, ein schönes Geschenk, an das mein Umfeld nicht gedacht hätte.

 

(Georges Borgeaud: Le Voyage à l’étranger, 1974; im selben Jahr ausgezeichnet mit dem Prix Renaudot.)

 

L’un de mes éducateurs m’avait expliqué que là était le signe distinctif des mélancoliques dont j’avais le bonheur et le malheur d’être. Cet éducateur fut un des rares « pères » que j’aurais pu avoir, car, naturellement, je lui échappai dès qu’il voulut prendre la place de l’inconnu. Je l’ai aimé pour son coeur, son intelligence, pour le fait de m’avoir révélé Dieu d’abord, la vie ensuite. C’est lui qui décela chez moi une nature contemplative et qui me dirigea vers le monastère. Je le respectais aussi pour la difficulté qu’il avait à concilier sa foi religieuse et sa passion de la vie. Il était insaisissable; il était ce que je suis. Il avait pénétré quelques-uns de mes secrets, jeté des lumières sur mes obscurités, peut-être parce qu’il y reconnaissait de chères et détestables faiblesses qui avaient été les siennes.

 

Un jour, donc, il me dit ceci que je n’ai jamais oublié, et presque mot à mot: « Jean, je vois la joie éclairer ton visage et presque aussitôt après le chagrin l’assombrir. Tu as la vulnérabilité de l’eau. » C’était un langage métaphorique, mais je venais du pays du lac et j’en connaissais les humeurs brusques et changeantes. Enfin, quelqu’un me donnait une surface, un beau présent auquel mon milieu n’aurait pas songé.

 

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