Suzi Pilet: Fotografin.

18. April 1916 – 22. Januar 2017.

 

Aufgenommen am 7. Juli 1989 in Lausanne.

Suzi Pilet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> In ihrem 77. Jahr wird Suzi Pilet für die „Plans Fixes“ aufgenommen. Mit jugendlichem Charme schildert sie die Phasen ihres fotografischen Werks und die Epochen ihrer Freundschaften. Nach der Sitzung lebt sie noch 23 Jahre weiter und erreicht das runde Alter von hundert Jahren. Heute, sechs Jahre nach ihrem Ableben, widmet sich die Association des amis de Suzi Pilet ihrem Andenken. Zu recht: Wer die Künstlerin kennenlernte, bleibt ihr für das Geschenk der Begegnung lange dankbar. <

 

Ab wann wird ein Werk zum Werk? Diese Art zu fragen reicht 2600 Jahre zurück zu den griechischen Philosophen Eubulides bzw. Zenon von Elea.

 

Annina Klappert: Sand als metaphorisches Modell für Virtualität.

 

Gesetzt den Fall, dass ein Sandhaufen, dem ein einziges Sandkorn entnommen wird, immer noch einen Sandhaufen ist, und gesetzt den Fall, dieser Vorgang wird wiederholt – wann ist der Punkt gekommen, an dem er aufhört, ein Sandhaufen zu sein? Oder umgekehrt: Gesetzt den Fall, dass ein Sandkorn, das offensichtlich noch kein Sandhaufen ist, auch dann noch kein Sandhaufen ist, wenn ihm ein weiteres Sandkorn hinzugefügt wird – wann ist, wenn dieser Vorgang wiederholt wird, der Moment erreicht, in dem die einzelnen Sandkörner beginnen, ein Sandhaufen zu sein? Oder, um es mit Cicero zu formulieren: „Bei welchem Wieviel beginnt der Haufen?“

 

Mit dieser Frage lässt Samuel Beckett sein „Endspiel“ einsetzen:

 

Clov mit starrem Blick und tonloser Stimme: … Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende. Pause. Ein Körnchen kommt zum anderen, eins nach dem anderen, und eines Tages, plötzlich, ist es ein Haufen, ein kleiner Haufen, der unmögliche Haufen.

 

Offensichtlich hat der 51-jährige Samuel Beckett die antike Sorites-Paradoxie gekannt. Ebenfalls der 21-jährige Georg Büchner. In „Dantons Tod“ lässt er ein Mitglied des Wohlfahrtsausschusses, das, um sich zu schützen, mitgemacht und viele Todesurteile ausgesprochen hat, sinnieren:

 

Als die Septembriseurs [die Urheber der sogenannten Septembermorde] in die Gefängnisse drangen, fasst ein Gefangener sein Messer, er drängt sich unter die Mörder, er stösst es in die Brust eines Priesters, er ist gerettet! Und ich? Ob ich mich unter die Mörder dränge oder mich in den Wohlfahrtsausschuss setze, ob ich ein Guillotinen- oder ein Taschenmesser nehme? Es ist der nämliche Fall, nur mit etwas verwickelteren Umständen; die Grundverhältnisse sind sich gleich. – Und durft er einen morden: durft er auch zwei, auch drei, auch noch mehr? Wo hört das auf? Da kommen die Gerstenkörner! Machen zwei einen Haufen, drei, vier, wieviel dann? Komm, mein Gewissen, komm mein Hühnchen, komm, bi, bi, bi, da ist Futter!

 

Die Frage nach dem Haufen stellt sich, gottseidank harmloser, auch bei Fotografien. Wieviele Bilder ergeben ein Werk? > Henri Stierlins Sammlung umfasst 180’000 Aufnahmen. Alle selber geknipst. Genügt das? Oder ist die Frage falsch gestellt? – Wenn „Werk“ eher Qualität als Quantum bezeichnet, braucht es keinen Haufen; dann genügen zwei, drei Bilder, damit der Betrachter schliesst: Bei diesen Fotos handelt es sich nicht um Dokumen­tation, sondern um Kunst!

 

Zu dieser Einsicht führt jedenfalls der stumme Einstieg in die „Plans Fixes“ mit der 76-jährigen Fotografin. Ein paar wenige, unkommentierte Aufnahmen aus verschiedenen Phasen ihres Schaffens zeigen eine ungewöhnliche Kraft – nicht wegen des Bildes allein, sondern wegen des Blicks. Die selbe Kraft verrät sich auch, wenn die Künstlerin, befragt von Bertil Galland, ihre Begegnungen mit Menschen, Kulturen und Landschaften zu schildern beginnt.

 

Leider bleibt es beim Beginn. Denn der Interviewer verhindert mit dem Staccato seiner Fragen, dass Suzi Pilet zum Punkt kommt. Stets wird der Lauf ihrer Gedanken nach wenigen Metern abgepfiffen und die auskunfts­freudige Künstlerin auf ein neues Thema gesetzt. Bei dieser Vorgangsweise merkt man nur: Sie hätte noch viel zu sagen, darf aber nicht bis zum Wesentlichen vordringen.

 

Jetzt bleibt es beim Name-Dropping: Die Herzensfreundin > Corinna Bille und ihr Bruder > René-Pierre Bille, der Tierfotograf und -filmer. > Maurice Chappaz. > Jacques Mercanton. > Georges Borgeaud. Alle wurden von den „Plans Fixes“ festgehalten, weil sie bedeutende Dichter waren – wie auch Alexis Peiry, der langjährige Gefährte. Im Kreis dieser Persönlichkeiten wirkt Suzi Pilet wie die Lou Andreas-Salomé der Westschweiz. Genies ziehen einander an.

 

Mit Alexis Peiry entsteht eine Liebes- und Werkgeschichte eigener Art. An einer Vernissage („ich wusste mit 26 Jahren noch nicht einmal, was das war!“) kreuzte sich ihr Blick mit einem zehn Jahre älteren Mann: Latein- und Griechischlehrer an der Privatschule Lemania. Früher Priester. Jetzt Vater eines Knaben. Der Sohn brachte die beiden Menschen dazu, Literatur und Fotografie zu vereinigen und zwischen 1951 und 1959 ein neuartiges Werk zu schaffen: Die Abenteuer von Amadou, einem Jungen. (Auf Deutsch wäre sein Name Zunder.) Das Projekt erschien den etablierten Häusern zu verwegen. Folglich gründeten Alexis Peiry und Suzi Pilet einen eigenen Verlag.

 

Neun Bände brachten sie heraus. Da Amadou nicht altern durfte, nahmen sie für ihn eine Puppe. Alexis erfand die Geschichten und richtete die Puppe her. Suzy fotografierte sie; und zwar so einfühlsam, dass in den Bildern Wahrheit und Arrangement, Natur und Kunst, Puppe und Wirklichkeit zu einem poetischen Ausdruck verschmolzen, der dem Wort Surrealismus eine neue Bedeutung gibt.

 

Mit „Amadou l’audacieux“ (Amadou der Kühne) kombinierten Alexis Peiry und Suzi Pilet Kraft und Zartheit und beglaubigten durch Bild und Text Nicolás Gómez Dávilas Beobachtung: „Die Kunst ist das Werkzeug, das uns in den Besitz der Welt bringt, ohne sie in einen Leichnam zu verwandeln.“ Mit diesem Satz ist auch der Unterschied zwischen einem foto­grafischen Werk und einer Fotosammlung definiert.

 

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