Dr. Paul Anex: Radiologe.

30. Juli 1920 – 29. Januar 1997.

 

Aufgenommen am 27. November 1990 in Aigle.

Dr Paul Anex – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „Man darf die Gemeindepolitik nicht verniedlichen“, erklärte vor fünfzig Jahren der freisinnige Parlamentarier Karl Müller im „Bund“. Wenn der Elektroingenieur ETH ans Rednerpult trat, wurde es im Bieler Stadtratssaal still. Er hatte die Gabe, mit wenigen starken Strichen die Lage umreissen zu können, und dann wusste jeder, was Sache war. Er sah eben, wie man damals sagte, „den Puck“. – Dasselbe Format scheint auch sein Altersgenosse, der Radiologe Dr. Paul Anex, in der Waadtländer Kleinstadt Aigle aufgewiesen zu haben. Diese Folgerung legt einem sein Porträt aus dem Jahr 1990 nahe. <

 

Als Sohn des Briefträgers brachte es der Radiologe Dr. Paul Anex in seiner Geburtsstadt Aigle zum Ehrenbürger. Und der Weinproduzent Henri Badoux, ein Schwergewicht in der Branche, finanzierte als Alleinsponsor die Aufnahme für die „Plans Fixes“ zu seinem siebzigsten Geburtstag: „Cordial hommage de Henri Badoux à son ami Paul Anex“. Man braucht dem Porträtierten nur ein paar Minuten zuzuhören, um zu merken, dass das Geld nicht verschwendet war.

 

Drei Faktoren fallen bei Paul Anex ins Auge: Beherrschung seiner selbst, Beherrschung der Sache, Beherrschung der Sprache. Zusammen unter­streichen sie seine Souveränität. Wie ein bejahrter, leutseliger Monarch sitzt er in seinem Sessel und lässt vor dem geistigen Auge Menschen und Verhältnisse aufmarschieren. Den Grossvater mütterlicherseits zuerst: Früh verwaist, bringt sich der Bub im Val d’Ormont als Knechtlein durch. Mit zwanzig wird er Strassenarbeiter und Tagelöhner. Das Tal ist eng und steil. Ärztliche Hilfe gibt es nicht. Wenn die Leute krank werden, greifen sie zu Hausmitteln. Der junge Mann, ein guter Beobachter, lernt die Heilkraft der Pflanzen begreifen. Sein Wissen kommt zuerst der Familie, dann den Nachbarn zugute. Mit der Zeit breitet sich der Ruf ins Unterland aus. Er nennt sich nicht Arzt, sondern Kräuterkundiger (herboriste). Da das Geschäft immer umfangreicher wird, leitet er Bauern und Schulkinder zum Sammeln an. Schon muss er Mischungen ins Ausland schicken: nach Frankreich, Deutsch­land, Mittelamerika, USA, Japan …

 

Der Regierungsstatthalter aber muss den Kräutermann wegen unerlaubter Heiltätigkeit immer wieder ins Schloss von Aigle berufen und ihm eine Busse auferlegen. „Es tut mir leid“, sagt er jeweils. Denn er ist selber Kunde des Heilkundigen und weiss von ihm, dass er seine Grenzen kennt und alle schwerwiegenden Fälle an den Arzt weiterverweist. „Du bekommst jetzt die minimale Busse: 5 Franken.“ Weil aber der Kräuterhandel weitergeht, interveniert der Kanton und dringt auf schärfere Bestrafung: „Es tut mir leid“, sagt der Regierungsstatthalter. „Ich muss jetzt 50 Franken verlangen. Und die Busse muss im Amtsblatt veröffentlicht werden.“ „Tu das nur. Das ist für mich die beste Reklame.“ In der Tat. Nun kann der Grossvater vom Versand der Kräuter leben. Dem Enkel aber, der sich für die Heiltätigkeit interessiert, rät er: „Du musst Arzt werden. Dann hast du nicht die Scherereien, die ich habe.“

 

Wenn Paul Anex das erzählt, setzt er mit der gleichen Sicherheit, mit der sich die guten Köpfe aus dem Volk mitteilen, einen träfen Ausdruck hinter den andern. Kein Bullshit, kein Blabla. Der Radiologe teilt diese Gabe mit seinem Altersgenossen, dem vier Jahre jüngeren > Alain Barraud, der, ohne eine Berufslehre absolviert zu haben, das mausarme Val d’Ormont zur Tourismusdestination mit dem schönen Namen Les Diablerets emporbrachte. Die Erzählweise der beiden volksnahen Männer ist durchtränkt von der Gabe des Humors: Sie haben die Füsse auf dem Boden, sehen das Wesentliche und nehmen sich nicht zu ernst.

 

Damit bekommt bei Paul Anex auch die Schilderung der Gymnasialzeit Würze, indem sie den Klang wiedergibt, mit dem sich die einfachen Leute verständigen. Pauls Vater, Briefträger in vierter Generation, begriff den Ehrgeiz des Sohnes nicht: „Studieren ist nichts für Leute wie wir. Ich könnte dich auch gar nicht unterstützen.“ Ein Brief des Sekundarschul-Rektors goss Wasser auf seine Mühle: „Da schau: Er findet auch, das Gymnasium sei nichts für dich!“ Wenn der Vater am Ende trotzdem nachgab, so in der Überzeu­gung, Paul werde sich am Lycée von Lausanne nicht halten können und am Ende des Probesemesters reumütig nach Aigle zurückkehren, um nach Familienbrauch eine Lehre bei der Post anzu­fangen.

 

Allzu viel hielt ja Paul selber nicht von sich. Ein gesunder Pragmatismus bewahrte ihn vor Einbildung. Als am Ende der Gymnasialzeit die Resultate der Maturitätsprüfung aufgehängt wurden, fand er seinen Namen nicht auf der Liste. „Wie schaust du denn aus?“, fragte ein Kollege, der ihm im Korridor begegnete. „Mach dich nicht lustig über mich“, entgegnete Paul. „Ich bin ja durchgefallen.“ „I wo! Da lies!“ Paul hatte die Lektüre zu früh aufgegeben. Die Ergebnisse waren nicht aufgelistet nach dem Alphabet, sondern nach dem Examenserfolg, und Paul hatte zuunterst angefangen, sich zu suchen. Als er sich in den beiden unteren Dritteln nicht gefunden hatte, hatte er sich abgewandt. Dabei stand sein Name, wie sich jetzt zeigte, an drittoberster Stelle. Nun fuhr er, wie häufig, mit dem Velo die 45 km von Lausanne nach Aigle zurück. Doch bevor er zur Familie stiess, machte er beim Rektor der Sekundarschule Halt: „Der unfähige Maturand entbietet Ihnen sein Gruss!“ Das war die Kirsche auf der Schwarzwäldertorte.

 

Paul Anex packte nun das Medizinstudium mit dem Ziel an, eine allgemeinärztliche Praxis auf dem Land zu eröffnen. Doch es kam anders. Als er seine Assistenzzeit in der Röntgenabteilung absolviert hatte und eben weiterwollte, starb der Direktor. Paul Anex wurde bekniet, die Leitung interimistisch zu übernehmen. Da sah er, dass ihm das Führen eines Instituts Freude bereitete, und er blieb über das vorgesehene halbe Jahr hinaus im Dienst der Röntgenstrahlen. Als einziger Radiologe zwischen Lausanne und Sitten wurde er anschliessend gleich an vier Spitälern tätig und arbeitete mangels Stellvertretung die ersten drei Jahre durch, ohne eine Woche Ferien zu nehmen. Seine Frau, eine Lehrerin, besuchte ihn während dieser Zeit jeweils am Wochenende im Spital.

 

Am Ende liess sich Paul Anex in Aigle nieder. Für die Praxisgenehmigung musste er sich ins Schloss verfügen. Da nahm ihm der Regierungsstatthalter, der Vater von Henri Badoux, in seiner Amtsschärpe den Eid ab. Bisher war Paul vom stattlichen Mann, der ihn schon als Kind gekannt hatte, immer geduzt worden. Nun aber sagte er „Monsieur le docteur“ zu ihm, und: „Heben Sie drei Finger auf!“ Dann nahm er die Schärpe ab. „So, mein Lieber. Jetzt werden wir miteinander noch eine gute Flasche trinken!“ Paul Anex erklärt: „So ist das Waadtland. Es hat Sinn für Zeremonien und Sinn für Geselligkeit.“

 

Einmal installiert, wurde Paul Anex gebeten, sich für den Gemeinderat zur Verfügung zu stellen. Zu seiner Verwunderung sprach ihm die Frau zu: „Du hast an der Politik so viel auszusetzen. Zeig, dass du’s besser kannst!“ Offenbar trauten ihm das auch die Stimmbürger zu. Jedenfalls fand er sich nach den Wahlen zuoberst auf der Liste. Vier Legislaturen verbrachte er in der lokalen Exekutive. Er brachte es zustande, das Schloss Aigle vom Gefängnis zu befreien und damit Platz zu schaffen für das Museum der Rebe und des Weins. Der Zufall kam ihm zuhilfe. Der Gefängniswärter war in Pension gegangen. Paul Anex liess die vier Bewerber kommen und schilderte ihnen die Verhältnisse in so abschreckenden Farben, dass sie ihre Kandidatur zurückzogen. Jetzt mussten die Gefangenen provisorisch verlegt werden, und Paul Anex sorgte dafür, dass aus dem Provisorium ein Providurium wurde, und am Ende ein Definitivum.

 

Damit war der Weg 1971 frei für das Musée de la vigne et du vin. Eingerichtet von > Pierre Bataillard, wurde es „Museum des Jahres“. 2004 erweiterte es sich um das Museum der Etiketten mit seinen 400’000 Flaschenaufklebern, davon 30’000 entworfen von > Michel Logoz, dem „Ambassadeur du vin“. Den Titel gaben ihm die „Plans Fixes“. Paul Anex aber, der Gründer des Museums im Schloss Aigle, krönte seine Laufbahn offiziell als Präsident des „Office des vins vaudois“. Gerade, weil er den Wein nur schätzte, nicht aber produzierte oder verkaufte, unterwarfen sich die Winzer und Händler seiner Weisheit. Und als er mit siebzig vom Amt zurücktrat, finanzierte der Chef des grossen Weinhauses von Aigle sein Porträt für die „Plans Fixes“:

 

Cordial hommage de Henri Badoux à son ami Paul Anex

en signe de gratitude

pour son engagement dans sa vie et ses œuvres

en faveur de la vigne et du vin.

 

(Herzliche Hommage von Henri Badoux an seinen Freund Paul Anex

als Zeichen der Dankbarkeit

für sein Engagement in seinem Leben und seinen Werken

zugunsten der Rebe und des Weins.)

 

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