André Guex: Schriftsteller.

 8. Mai 1904 – 7. April 1988.

 

Aufgenommen am 22. Juni 1983 in Les Giettes.

André Guex – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Als vor 40 Jahren, im Juni 1983, auf der Alp Chindonne das Gespräch mit dem Schriftsteller André Guex für die „Plans Fixes“ gedreht wurde, hiess ist das Lokal noch „Café“ (heute „Auberge“). Immer noch ist die Aussicht majestätisch. Auf 1604 m über Meer blickt man hinüber auf die Bergkette der Dents du Midi (3258 m). Vom Café de Chindonne aus machte André, 70 Jahre vor der Aufnahme, zusammen mit dem Vater die ersten Ski-Abfahrten. In den 110 Jahren, die uns von dieser Epoche trennen, hat sich die Welt – und mit ihr das Wallis – stark verändert. <

 

André Guex’ Vater Jules atmete jedesmal durch, wenn er den Boden des Wallis betrat. Er war ein Mann der Berge. In ihnen fühlte er sich heimisch. Er kannte das Terrain bis in den letzten Winkel. Als Ortsnamensforscher nahm er auf, wie die Stellen im Raum bei den Einheimischen hiessen. Dafür verliess er die Archive und trat – eine Seltenheit in der Disziplin – auf die Hirten und Bauern zu. Bei den Begegnungen lernte der Sohn an seiner Seite die Gesprächsfreudigkeit der Bergbewohner kennen.

 

Jetzt erklärt der 79-Jährige der Kamera, was für ein wichtiges Bindemittel die Sprache war: „Die Menschen lebten in enger Gemeinschaft. Alle grossen Werke nahmen sie in der Sippe vor: Das Heuen und Ernten, die Reparatur der Wasserleitungen und Wege, die Sicherung der Schutzwälder und Weidezäune – das waren lauter gesellige Tätigkeiten. Dabei tauschten sich die Beteiligten aus, mit Scherz und Ernst, Mutwillen und Witz, Sinn und Unsinn. In den langen Winternächten versammelten sich die Dorfbewohner zu sogenannten Abendstuben (veillées). Auch da wurde intensiv geredet, bis dann einzelne (les raconteurs) von dem, was früher gewesen war, zu erzählen begannen. Alles hing an ihren Lippen.“

 

In seinem „Plans Fixes“-Porträt beschreibt der Tierfotograf > René-Pierre Bille die „veillées“ in Chandolin, einem Dorf, das winters monatelang von der Aussenwelt abgeschnitten war. „Heute aber“ stellt André Guex fest (und wir sind erst im Jahr 1983), „ist es mit der Sprachmacht der Walliser Bauern vorbei. Am Tag arbeiten sie einsam in den Kabinen ihrer Traktoren. Und am Abend setzen sie sich vor den Fernseher. Da schweigen sie gemeinsam im Familienkreis.“

 

Die grosse Umwälzungen, die der Kanton im Lauf des letzten Jahrhunderts erfuhr, brachten André Guex dazu, über das Wallis zu schreiben. 1971 erschienen die Titel „Valais naguère“ (Wallis einst) und, in 3 Bänden, „Le demi-siècle de Maurice Troillet“ (Die Jahrhunderthälfte von Maurice Troillet). Der Staatsmann leitete von 1913 bis 1953 ununterbrochen das Innendepartement der Walliser Kantonsregierung. (Seinen Rebbesitz bearbeitet heute die preisgekrönte Winzerin > Marie-Thérèse Chappaz.) Von den Höhen aus, die er in Gesellschaft des Vaters lieben gelernt hatte, traten jetzt André Guex die Folgen der Troillet-Politik vors Auge. 

 

Die Rhone, einst von riesigen Schilfgürteln umsäumt und mit Inseln durchwachsen, auf denen Pferde weideten, wurde kanalisiert. Links und rechts entstanden Fruchtplantagen und Industrieflächen. Neue Stauwerke brachten ungeahnten Reichtum in die abgelegenen Dörfer. Gleichzeitig führte die Entwicklung des Tourismus vergnügungssüchtiges Volk in den früher abgeschotteten Berg­kanton. 

 

„Die Landesväter jonglierten geschickt mit den verschiedenen wirtschaftlichen Faktoren, glaubten auch, das Spiel zu beherrschen“, erklärt André Guex. „Doch rechneten sie nicht mit den Karten, welche die Zukunft in der Hand behielt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das Entwicklungsziel, alle Bergdörfer, auch die abgelegensten, mit fahrzeugtauglichen Strassen zu versehen, damit die Bauern leichter ins Tal kämen, hatte zur Folge, dass sich die Bauern in der Ebene ansiedelten und ihre Häuser am Herkunftsort den Auswärtigen verkauften.“

 

Für seine Forschungen verband André Guex den Blick aus der Höhe mit dem Blick in die Tiefe. Er freundete sich mit den Stollenarbeitern an, lernte durch sie die Faszination des Bergbaus kennen: „Wenn man eine Staumauer an der Bergflanke verankern will, weiss man nie, was hinter dem Gestein zutage tritt. Die Begegnung mit dem Unbekannten schweisst die Gemeinschaft zusammen. Alle wissen, dass sie an etwas Grossem arbeiten und dass sie die Probe nur gemeinsam bestehen. Die Kraft des Zusammenwirkens führt dazu, dass keiner den Beruf verlässt, so hart er auch sei.“ Aus der Begegnung mit den Mineuren entstand der Roman „Barrages“ (Staumauern), ein Thema, das auch der Walliser Schriftsteller > Maurice Zermatten beschrieben hat.

 

In weiteren Werken befasste sich André Guex zwischen 1946 und 1975 mit den Schiffen, den Berufen und den Menschen des Genfersees: „Voiles et carènes“ (Segel und Kiele), „De l’eau, du vent, des pierres“ (Vom Wasser, dem Wind, den Steinen) und „Mémoires du Léman“. Auch am grössten See Europas waren erhebliche Änderungen vorgegangen, nicht nur im Fischbestand, sondern in der Navigation.

 

André Guex hatte noch erlebt, dass die Fischerboote und Lastkähne aus Holz gebaut und mit Segeln bestückt waren. Die Menschen des Wassers hatten ein immenses Wissen für Witterung, Strömungs- und Windverhältnisse: „Sie spürten alles in der Hand, die die Pinne hielt, an Netzen und Leinen zog.“ Für seine Schilderungen erhielt André Guex 1956 den Schiller-Preis (damals die höchste literarische Auszeichnung der Schweiz) und 1983 (dem Jahr der Aufnahme für die „Plans Fixes“) den Preis der Waadtländer Schriftsteller (Prix des écrivains vaudois).

 

Wenn André Guex mit dem Vater auf fellbespannten Skiern aus dem Rhonetal ins Café (heute Auberge) de Chindonne hinaufstieg, erwartete sie oben nicht nur eine majestätische Sicht auf die Berge, sondern auch eine lange, einsame Abfahrt mit einer Höhendifferenz von 1500 m. Heute ist Naturbegegnung für keinen mehr ein Thema. Nur noch Artenschwund (in der Schweiz alarmierend), Zersiedelung, Klimakatastrophe und Ökologie.

 

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