Igor Ustinov: Bildhauer. Die Kunst dem Leben widmen.

30. April 1956 –

 

Aufgenommen am 20. November 2020 in Rue.

Igor Ustinov – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Am Tag, an dem Igor Ustinov zur Welt kam, hatte gerade ein Stück seines Vaters, Peter Ustinov, Uraufführung. Es hiess „Romanoff und Julia“ und handelte, wie der Titel andeutet, von einer Liebe, welche die Feindschaft überwindet: Nicht die Gräben zwischen zwei verfeindeten Familien diesmal, sondern die Gräben zwischen zwei verfeindeten Systemen. Der Romeo des Stücks (und später auch des Films) hiess Igor. Dieser Name wurde nun dem Sohn gegeben, der am Uraufführungstag zur Welt kam. Ein bedeutungs­volles Vorzeichen. <

 

„Wenn Sie in einer Familie mit fünfzig Künstlern aufwachsen, dann dreht sich keiner um, wenn Sie ankündigen, Sie wollten Bildhauer werden. Kommentare würden Sie auslösen, wenn Sie sagten, sie wollten Bankier werden oder Versicherungsagent: ‚Uh du, pass auf! Das sind keine sicheren Berufe!‘“

 

Igor Ustinov schildert in den „Plans Fixes“ seine Herkunft und Zugehörigkeit: Die Mutter war Schauspielerin, der Vater Schriftsteller, Schauspieler, Regisseur, Cineast, langjähriger Botschafter des Unicef-Kinderhilfswerks. Die Eltern gehörten zusammen mit den Grosseltern und Urgrosseltern, Onkel und Tanten, Vettern und Basen zur weitverzweigten Künstlerfamilie Benoit, die unter Peter dem Grossen aus Frankreich nach St. Petersburg gezogen war.

 

Dort musste man etwas aushalten können. Der Winter war hart. In einem Brief an den Bruder schrieb der deutsche Maler Wilhelm von Kügelgen im Frühjahr, genau gesagt im April 1846:

 

Petersburg lohnt sich eigentlich kaum eine Reise dahin zu machen. Zwar ist viel Schönes hier, aber es ist nicht zu geniessen. Niemand raucht gern Tabak bei 20° Kälte, und so ist hier alles Schöne, es ist immer ein Grad dabei, der es ungeniessbar macht.

 

Vier Monate später, im August 1846, meldete der Künstler:

 

Diese Reise durch Russland ist eins der schrecklichsten Ereignisse in der Laufbahn eines Malers. Hier in Sankt Petersburg wird mein Leben jetzt ganz einzig langweilig, und diese Art von Arbeit habe ich bis zum Halse. Wenn ich abends das Atelier verlasse, so bin ich [wegen des Umriss­zeichnens] ganz überzogen mit Kohlenstaub. Das Vergnügen, ein reines Hemd anzuhaben, geniesse ich nur auf Viertelstunden. Überhaupt ist alles hier so unreinlich, auch das Haus, das ich bewohne; dabei wimmelt es von Ungeziefer, Ameisen, Tarakanen, Flöhe, Wanzen, alles drängt sich in mein Zimmer. Die afrikanische Hitze, die wir haben, mag auch in diesem Jahr besonders viel Teufelsbrut aushecken. Solche Hitze ist in Petersburg höchst unerträglich, so angenehm sie auf dem Lande ist. Dort haucht die Nacht aus Wäldern und tiefen Schluchten eine Eiseskälte aus, die die Sommermorgen erfrischt. Hier in Petersburg ist abends, morgens, mittags immer derselbe Backofen. – Ich kann vor Hitze nicht mehr die Feder halten, obgleich ich im Hemd nachts um zwölf Uhr am offenen Fenster sitze. Im Atelier haben wir beide [mein Neffe und ich] nichts am Leibe als Hemd und Unterhosen, und so überraschte uns neulich Oberst Kaulbass mit seiner Frau. Gute Nacht, meine Lieben. Wahrscheinlich schnurgelt ihr schon alle im süssen Schlaf, und nur die Petersburger Gespenster sind noch unterwegs.

 

Die Kolonie der europäischen Künstler prägte unter den > Romanoffs das kulturelle Leben Russlands, welches später wiederum ausstrahlte auf die europäischen Kulturstädte. Ein Mitglied der Familie Benoit errichtete das Bolshoi-Theater. Ein anderes stattete in Paris die „Ballets russes“ von Sergei Djagilew aus. Ein drittes wurde Chefbühnenbildner der Scala. Dichter, Komponisten, Maler, Bildhauer, Architekten gehörten zur Familie … und ebenso die Ustinovs.

 

Nicht verwunderlich, besuchte Igor bis zur Scheidung der Eltern 21 verschie­dene Schulen. Das hing zusammen mit den vielen berufsbedingten Wechseln des Wohnorts; aber auch mit der Überzeugung der Mutter, dass sie hochbegabte Kinder habe. Wenn sie eine schlechte Note bekamen, war die Schule schuld; in dem Fall gehörte der Nachwuchs in eine bessere; und hopp.

 

So ging das zu, bis sich die Eltern trennten. Nun kamen Igor und seine beiden Schwestern in verschiedene Internate. „Als Kind richtet man sich ein“, erklärt Igor Ustinov mit 64 Jahren. Er hat einen optimistischen Charakter. Den zeigen auch seine Skulpturen: Sie vermitteln Schwung und Lebensmut.

 

Folglich war nicht Depression der Anlass, sondern Rebellion, Sportsgeist und Wagemut, dass Igor elfmal aus dem Internat ausriss. Er öffnete dann das leerstehende Haus seines Vaters und bot der Bande der Mitverschworenen Unterschlupf. Sie waren so zahlreich (manchmal fehlten zwanzig Schüler aufs Mal), dass sie die Leitung nicht aus dem Institut verweisen konnte, weil sonst der Betrieb finanziell in Schieflage geraten wäre.

 

Igor Ustinov hätte eine Karriere als Biologe machen können. Das Diplom dazu erwarb er in Paris. Daneben besuchte er auch die Kunsthoch­schule und nahm Gesangsunterricht am Konservatorium. Am Ende aber führte der Weg in die Bildhauerei. „Ja, der Weg ist unsicher“, nickt der Künstler. „Er gleicht dem Gang auf dem hohen Seil. Aber wenn man an das Ziel glaubt, erreicht man es.“

 

Heute versieht Igor Ustinov zwei weitere Berufe, wenn man dem so sagen kann: Philanthrop und Erfinder. Als Philanthrop präsidiert er die Peter Ustinov Stiftung. Sie hilft seit 1999 Kindern in besonderer Not durch die Errichtung von Tagesstätten, Spielplätzen, Gemeindezentren. Sie befreit Mädchen aus der Zwangsprostitution und versucht, der Jugend eine menschenwürdige Zukunft zu geben.

  

Mit sechzig wird der wandelbare Igor Ustinov noch zum Gründer eines Start-up-Unternehmens. Es bringt ihm an der 45. Internationalen Messe für Erfindungen in Genf 2017 den Preis für die beste Erfindung ein. Die Jury zeichnete sein „Ustinov Construction System“ für preiswertes und müllredu­ziertes Bauen aus.

 

Das System bildet die Antwort auf die Frage: „Aus welchem Material können wir Behausungen für die Milliarde obdachloser Menschen schaffen? Beton geht nicht. Dafür fehlen schon heute das Wasser und der Sand. Nehmen wir aber Holz, müssen wir sämtliche Wälder umhauen.“ Da hat der Biologe, Sänger, Bildhauer und Philanthrop die Erleuchtung: „PET! Das Material ist in genügender Menge vorhanden. Es ist ungefährlich. Man kann es bearbeiten.“

 

Die Homepage erklärt:

 

Das „Ustinov Construction System“ ist so konzipiert, dass es einfach und industriell in grossem Massstab durch Extrusion oder 3D-Druck hergestellt werden kann. Es besteht aus drei Hauptprofilen, die wie bei einem Legospiel zusammengesetzt werden, um Wände, Böden und Decken zu bilden. Der kubische Strukturstandard ist für unendliche architektonische Kompositionen geeignet und lässt sich an lokale kulturelle Traditionen anpassen.

 

Das „Plans Fixes“-Porträt von Igor Ustinov läuft aus. Was können wir aus der Begegnung lernen? Die Antwort findet sich in den „Maximen“ von La Rochefoucault:

 

Nichts ist unmöglich: Es gibt Wege, die zu allen Dingen führen; und wenn wir genügend Willen haben, verfügen wir stets auch über genügend Mittel.

 

Rien n'est impossible : il y a des voies qui conduisent à toutes choses ; et si nous avions assez de volonté, nous aurions toujours assez de moyens.

 

q.e.d.

 

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