Marlyse Pietri: Zwischen dichterischer Wahrheit und Romantik.

17. November 1940 –

 

Aufgenommen am 9. September 2014 in Genf.

Marlyse Pietri – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Im Alter von 77 Jahren wurde die Gründerin der „Éditions ZOÉ“, die Genfer Verlegerin Marlyse Pietri, mit dem Preis der Stiftung Dr. J. E. Brandenberger ausgezeichnet. Die Stiftung trägt den Namen nach dem Erfinder des Cello­phans. „Leitgedanke ist die Ausrichtung eines Preises an Personen, die sich unter grösstem Einsatz um das Wohl der Menschheit verdient gemacht haben.“ 2017 wurde der Preis Marlyse Pietri zugesprochen. Die Summe betrug 200’000 Franken. <

 

Das „Wohl der Menschheit“ beförderte Marlyse Pietri, der Stiftung Dr. J. E. Brandenberger zufolge, durch „ihr lebenslanges verlegerisches Engagement für die Sprach- und Landesgrenzen überschreitende Vermittlung von Schweizer Literatur“. Über hundert Deutschschweizer Autoren wurden für die „Éditions ZOÉ“ übersetzt und der französischen Sprachwelt zugänglich gemacht, angefangen mit dem Gesamtwerk des kämpferischen Niklaus Meienberg.

 

Es folgten der stille Provinzbewohner Gerhard Meier, der eigenwillige Spaziergänger Robert Walser, der versponnene Sprachkünstler Matthias Zschokke, der weit- und hellsichtige Peter von Matt; daneben kamen die Autorinnen Rosemarie Burri, Annemarie Schwarzenbach und Gertrud Leutenegger ins Sortiment. – Bei Entgegennahme des Preises Dr. J. E. Brandenberger stellte Marlyse Pietri ihre Dankesrede unter den Titel: „Aber da, wo die Politik überall Gräber aushebt, führt die Literatur zusammen.“

 

Die Verlagstätigkeit ruhte auf einem Boden, der sich bei Marlyse Pietri in den ersten 35 Lebensjahren gebildet hat. In der untersten Schicht findet sich ein frommes, streng gottesfürchtiges Leben in der Waadtländer Kleinstadt Orbe. Marlyses Familie (sie trug den Namen Bachmann) gehörte zur Freikirche der Darbysten. Nach deren Auffassung muss jede Seele in inniger Beziehung zu Gott leben. Den Weg weist die Schrift, in der jeder Buchstabe heilig ist.

 

Auf diesem Boden las später die Verlegerin alle Texte mit den Ohren des Herzens: Andächtig, langsam, mit feinem Gefühl für die Qualität der Ansprache, das heisst: für die Qualität des Worts. Was sie vernommen hatte, trug sie eine Nacht lang in sich; liess ihm Zeit, sich auszubreiten; dann formulierte sie am nächsten Tag die Antwort.

 

Nach der Innigkeit erwarb Marlyse Bachmann die Weite des Blicks (zweite Schicht). Mit 15 Jahren verliess sie das Elternhaus. Es ist bei den Pietisten üblich, sich der Führung des Herrn anzuvertrauen. Heinrich Jung-Stilling beschrieb das 1777 mit den Worten:

 

„Was meinst du, hast du wohl nachgedacht, was du tun willst?“ 

 

„Vater! Darüber hab ich lange Jahre nachgedacht; aber erst diesen Morgen ist mir klargeworden, was ich tun soll; ich muss in die Fremde ziehen, und sehen, was Gott mit mir vorhat.“

 

„Wir sind also einerlei Meinung, mein Sohn! Geh, wann dir der himmlische Vater winkt! Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehst!“

 

Heinrich fühlte eine gänzliche Veränderung seines Zustandes, alle seine Schwermut und Schmerzen waren gänzlich weg, er empfand eine solche Wonne und tiefen Frieden in seiner Seele, dass er vor Freude und Seligkeit nicht zu bleiben wusste.

 

Marlyse Bachmann kam auf dem Weg über Deutschland in die USA, versah dort alle Arten von Jobs und entschied sich am Ende zu studieren. Doch der Umgang mit den amerikanischen Kommilitonen machte ihr keine Freude. Wohler fühlte sie sich bei den Einwanderern aus Nordafrika. Dabei ging ihr aber auf, dass sie im Kern ihres Wesens Europäerin sei. Deshalb beschloss sie, in die Schweiz zurückzukehren und an der Universität Genf die Ausbil­dung zu vollenden. Sie erwarb ein Diplom als Dolmetscherin und einen Master in Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Dieser Abschluss brachte ihr eine vierjährige Assistenz bei den Ökonomen ein.

 

Weite des Blicks: Marlyse gab Englischstunden an der École Lemania und heiratete mit 22 Jahren den Chiropraktiker Maxime Pietri, einen gebürtigen Korsen. Sie wurde Mitglied der Familie auf der Mittelmeerinsel und lernte dort eine Stabilität kennen, die Heinrich Jung-Stilling seinerzeit auch in Deutsch­land erlebt hat:

 

Seit mehr als hundert Jahren hatte eine jede Holzaxt, ein jedes Milchfass, und jedes andre Hausgerät, seinen bestimmten Ort; der vom langen Gebrauch glatt und poliert war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der Nähe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung; und das machte vertraulich. – Man trat in die Haustür, und war daheim.

 

Dritte Schicht: Utopien sind möglich. Diese Lehre entnahm Marlyse Pietri aus dem 68er Aufbruch, und sieben Jahre später fasste sie den Mut, das Unmög­liche zu wagen. Sie gründete mit 35 Jahren die „Éditions ZOÉ“. „Warum nicht eine Zeitung?“, fragt der Interviewer Patrick Ferla im Film. „Das haben schon andere gemacht“, entgegnet Marlyse Pietri. „Bücher sind haltbarer. Man trägt sie mit sich herum. Man wirft sie nicht weg.“

 

Wenn Marlyse Pietri jetzt Literatur las, war sie nicht mehr länger dem Vorwurf ausgesetzt, der Heinrich Jung-Stilling im 18. Jahrhundert noch so zu schaffen gemacht hatte:

 

„Was helfen dir deine brotlosen Künste?“ „Der arme Schelm, was will noch aus ihm werden!“ „Das kann man nicht wissen, ich glaube: er wird noch ein vornehmer Mann in der Welt.“ Die Mutter lachte und erwiderte oft: „Gott lass es ihm wohl gehen! Er ist ein recht lieber Bursche.“

 

Es ist Marlyse Pietri wohl gegangen. Im Film spricht die recht liebe Verlegerin von ihren Autoren wie von einer Familie. Was sie für sie tun konnte, entsprach gleichzeitig Privileg und Verantwortung: „Mit den Büchern, für die Bücher, in den Büchern gelebt zu haben, war von einer unvorstellbaren Schönheit und Schwierigkeit.“

 

Was es mit der Schwierigkeit auf sich hat, erklärte der Dichter und Zimmer-Buchhändler > Hughes Richard. In seinem Film zitiert er die Warnung des Neuenburger Schriftstellers Francis Giauque, der mit 31 Jahren den Tod fand: „Das Schreiben hat seine Gefahren. Nach einer gewissen Zeit wendet es sich gegen dich.“

 

Marlyse Pietri:

 

Eine Wahrheit wurde mir klar: Der Schriftsteller gibt der Welt sein grösstes Geheimnis, er bringt sich in Gefahr. Das Geschenk, das er uns durch sein Schreiben macht, kommt von einem fragilen Ort.

 

In diesem Zusammenhang möchte ich an einen sehr lieben Schriftsteller erinnern: Adrien Pasquali, ein Emigrant der zweiten Generation und späterer Universitätsdozent, der sich am 25. März 1999 im Alter von 41 Jahren das Leben nahm, unmittelbar nach der Veröffentlichung seiner schönsten Erzählung, „Le Pain de silence“, die alle lesen sollten. Er erzählt von der Kindheit in einer aus Italien ins Wallis eingewanderten Familie, wo die schlimmste Demütigung der Mangel an Worten, an Austausch, an Halt an der Sprache ist, weil man die Sprache nicht beherrscht.

 

Nach lebenslanger Beschäftigung mit Büchern und Autoren kam Nicolás Gómez Dávila zur Erkenntnis:

 

Eine echte Berufung führt den Schriftsteller dazu, nur für sich selbst zu schreiben: zuerst aus Stolz, dann aus Bescheidenheit.

 

Und Marlyse Pietri erkärt:

 

Durch die Kraft eines kreativen Textes bringen Schriftsteller die Menschen einander näher und öffnen ihren Geist. Sie enthüllen ein geistiges Universum, das uns reicher macht – an Gedanken, Visionen und Gefühlen. Diese anstrengende, gefährliche Schreibarbeit braucht einen Verleger, um möglichst breit vermittelt zu werden.

 

Ich habe versucht, diese Arbeit mit Liebe und Entschlossenheit über einen langen Zeitraum hinweg zu leiten.

 

Die Stiftung Dr. J. E. Brandenberger hat 2017 Marlyse Pietris  „Versuch“ am Ende des Weges eindrucksvoll gewürdigt.

 

159 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0