Jacky Milliet: Die blaue Note von Jacky Milliet.

2. Februar 1932 –

 

Aufgenommen am 17. Dezember 2021 in Porrentruy.

Jacky Milliet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Mit 88 Jahren musste Jacky Milliet aufhören, als Jazzmusiker aufzutreten. Aber schuld daran war nicht das Alter: „Beim Treppensteigen wird zwar der Atem etwas knapp. Beim Klarinettenspielen jedoch bemerke ich nichts.“ Corona trug die Schuld, dass es mit den Auftritten zuende war, mit den seinen und denen aller andern Künstler. Aber im Unterschied zu den Jüngeren konnte er die Sache gelassen nehmen: „I had it.“ <

 

In Jacky Milliets Lebensbilanz stehen hunderttausend verkaufte Schallplatten. Konzerte mit Namen wie Claude Luter, Bill Coleman, Mezz Mezzrow, Benny Waters, Albert Nicholas, Barney Bigard. Auftritte im Slow Club, im Caveau de la Huchette, im Petit Journal von Paris – dazu in New Orleans, in Rio de Janeiro und an unzähligen Festivals. Ja, wenn man seiner Berufung, seinem Instrument und seinem Stil im Lauf der Jahre treu bleibt, kann man es weit bringen … in der Welt … und … in Pruntrut.

 

Dort hat nämlich Jacky Milliet (bürgerlicher Vorname Jean-Jacques) sein Leben verbracht: In jenem mittelalterlichen Städtchen am äussersten Zipfel der Schweiz (erstmals erwähnt im 11. Jahrhundert), in dem sich seit jeher die akademisch geschulte Intelligenz des Landesteils ballte (1970: 8000 Einwohner, Uhrmacher- und Kunstgewerbeschule, Lyzeum). Immer noch weisen sich die grosszügigen Häuser, welche die Strasse vom Bahnhof zur Altstadt säumen, durch ihre Schilder als Anwaltskanzlei oder Arztpraxis aus. Jean-Jacques’ Vater besass die Apotheke Milliet an der Hauptgasse, Grand-Rue 2. Der Sohn übernahm sie nach dem Studium in Lausanne und ergänzte sie zusammen mit seiner Frau, ebenfalls Apothekerin, durch eine zweite Offizin, so dass sich heute in Porrentruy eine Pharmacie Milliet-Ville und eine Pharmacie Milliet-Gare finden.

 

Am Gymnasium unterrichteten der Lyriker > Jean Cuttat und > Pierre-Olivier Walzer, der spätere Literaturprofessor. Als Roland Donzé, Berner Ordinarius für französische Philologie, einmal den Maturitäts­prüfungen als Experte beiwohnen musste, fragte er den Kollegen Walzer, der Pruntrut in seinen Erinnerungen „Humanités provinciales“ beschrieben hat: „Du stammst ja von dort. Wo kann man da spazieren?“ Es gebe einen schönen ebenen Weg, gab Walzer Bescheid, er führe etwas oberhalb der Allaine zur Fontaine St. Nicolas und zum Pont d’Able. Am Waldrand habe es verschiedene Bänke. Dort könne man im Schatten der Bäume lesen.

 

Am Vorabend der Prüfungen nahm nun Donzé diesen Weg. Er fand alles wie beschrieben in der verhaltenen Schwermut französischer Provinzialität. Auf einer Bank am Waldrand sass ein Jesuitenpater. Er blickte von seinem Brevier auf: „Bonsoir, Monsieur le professeur!“ Donzé blieb stehen: „Bonsoir, mon Père.“ – „Wollen Sie sich nicht setzen?“ – „Wenn ich nicht störe ...“ – „O keineswegs.“ Donzé nahm Platz. „Wie kommt es, mon Père, dass Sie mich kennen?“ – „Oh, man weiss hier alles. Sie nehmen morgen ab acht Uhr die mündlichen Französischprüfungen ab.“ – „Und Sie?“ – „Ich unterrichte in Sekunda und Tertia.“ – „Was?“ – „Dasselbe wie Sie, Logik. Allerdings auf gymnasialem Niveau.“ – „Und was nehmen Sie morgen durch?“ Der Jesuit erwies sich, so Donzé anerkennend, als ausgesprochen kenntnisreich. Dazu als „bon pédagogue“. Er kannte die einschlägigen Periodika. Der Stand der Forschung war ihm geläufig. Er war auch in der Lage, seine eigenen, originellen Ansichten mit Scharfsinn zu verfechten. „Aber, mon cher Père“, rief Donzé, „Sie gehören auf einen Lehrstuhl!“ – „Wohin ich gehöre, Herr Professor, entscheidet mein Oberer.“

 

Wohin Jacky Milliets Vater gehört hatte, das hatte sein Vater entschieden: Pharmaziestudium an der Universität Bern. Das war der sichere Weg. Dass der Sohn daneben am Konservatorium so erfolgreich Geige studiert hatte, dass ihm das Berner Symphonieorchester eine Stelle anbot, blieb, wie manches im Buch des Lebens, im Kapitel der unrealisierten Möglichkeiten stecken.

 

1913 kam der junge Pharmazeut aus Lausanne nach Pruntrut, und 1917 erwarb er die Apotheke des Arbeitgebers. Nicht zum Wohlgefallen der Kirche. In der Messe rief der Priester: „Wir haben einen, der nicht von uns ist!“ Und in der Tat: Der Neue kam aus dem Kanton Waadt. Im Unterschied zu den Alteingesessenen gehörte er religiös zur protestan­tischen und politisch zur freisinnigen Richtung (radical), nicht aber zur katholisch-konservativen, wie das im Nordjura gebräuchlich war.

 

Die Ausrichtung des Vaters übertrug sich auf Jean-Jacques. Er studierte Pharmazie in Lausanne, doch dort warf die Musik ebenfalls ihre Netze auf ihn aus. Schon nach ein paar Tagen konnte er der Versuchung nicht widerstehen, das Musikgeschäft an der Ecke zu betreten und die schöne Occasions­klarinette aus dem Schaufenster zu erstehen, die mit 200 Franken angeschrieben war. (Der Betrag entsprach der Monatsmiete einer gehobenen Dreizimmer­wohnung.)

 

„Bis ich einen anständigen Ton hervorbringen konnte, vergingen ein paar Wochen“, erzählt Jacky Milliet. Während dieser Suche und Versuche vernahm er unversehens, wie jemand in der Nachbarschaft wunderschön Saxophon spielte. Er überwand die Scheu und klopfte an. „Ich kenne zwar Ihr Instrument nicht“, sagte der unbekannte Musiker. „Doch Ihr Problem liegt vermutlich darin, dass Sie nicht wissen, wie man ins Mundstück bläst. Schauen Sie, ich zeige es Ihnen.“

 

Nun beherrschte Jacky Milliet erst die Töne, aber noch nicht das Spiel. Mit Hilfe einer gedruckten Anleitung brachte er es sich selber bei, gleich wie der Dirigent > Robert Mermoud das Harmoniumspielen. (Andere, eher wissenschaftlich Orientierte, lernten im Selbststudium das Zehnfingersystem und das Stenografieren.) Dann kam die Rückkehr nach Pruntrut, die Eheschliessung, die Geburt zweier Kinder, die Übernahme der väterlichen Apotheke: „Die ersten zehn Jahre vergingen im Nu.“

 

Während dieser Zeit vernachlässigte Jacky Milliet nie die Klarinette. Er spielte zu Schallplatten und lernte so ab (Mozarts Ausdruck). Er suchte Gleichgesinnte, begann im Amateurkreis zu musizieren und kam später mit echten Profis zusammen, gleich wie der Chansonnier > Michel Bühler und der Instrumentalist > Geo Vomard. Der Berufene beisst sich durch.

 

So führte Jacky Milliet sechzig Jahre lang zwei Leben: Für Pruntrut war er ein Apotheker, für den Rest der Welt ein Jazzmusiker. Er liebte es, für die Einheimischen den Beichtvater zu spielen und für die Künstler den Partner und Kollegen. Von der Welt erholte er sich in Pruntrut, und in Pruntrut gewann er Kraft für die Welt. Auf diese Weise ging es ihm mit dem äussersten Zipfel der Schweiz wie dem Theaterkritiker Alfred Polgar mit seiner Vaterstadt: „Wien ist ein merkwür­diger Erdenfleck: eine wunderbare Stadt sowohl zum Dort-Sein wie zum Wegfahren.“

 

Die Ausgeglichenheit, die sich im Lauf des Lebens zwischen Da-Sein und Wegfahren einstellte, kennzeichnet den 90-Jährigen während der Aufnahme für die „Plans Fixes“. Der Wechsel hat ihn jung erhalten. Wie alle High-Agers sagt er: „Ich fühle mich alterslos.“ Und obwohl Jacky Milliet wegen Corona nicht auftreten kann, fällt keine Bitternis in seine Seele. Gleich allen Glücklichen verfügt er über eine volle Scheune.

 

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