Robert Mermoud: Musiker.

13. Oktober 1912 – 2. Februar 2005.

 

Aufgenommen am 23. Oktober 1991 in Eclagnens.

Robert Mermoud – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Im alten Griechenland hätte Robert Mermoud als Dämon (Daimon) aufgefasst werden können: als überirdisches Wesen, das die Verbindung herstellt zwischen Göttern und Menschen. Im Kanton Waadt jedoch war er bloss Chordirigent. Auf diesem Posten brachte er indessen die Bevölkerung von Dörfern und Städten während sechzig Jahren mit lebendiger Musik zusammen. <

 

In der Aufnahme aus dem Jahr 1991 sind zwei Aspekte bemerkenswert: Erstens Robert Mermouds Weg zur Musik und zweitens die dichte Chorkultur, in der er als Dirigent wirkte. Doch beides gehört heute zu einer unter­gegangenen Welt.

 

Robert Mermoud kam am 13. Oktober 1912 in Eclagnens zur Welt, das heisst in ländlicher Abgeschiedenheit. Das Leben der Bauernfamilie war geprägt vom Rhythmus der Arbeiten, die im Jahreskreis anfielen. Für das Kind bedeuteten sie einen Initiationsweg (Robert Mermouds Ausdruck), mithin eine Einführung in höchste Weihen, markiert durch konkrete Stufen: Das erste Heu zusammenrechen. Die erste Garbe binden. Den ersten Kartoffel­sack tragen.

 

Das Korn wurde auf der Tenne gedroschen. Drei Männer schlugen im Takt mit dem Flegel: Eins – zwei – drei – eins – zwei – drei – eins – zwei – drei … Das Gerät wog schwer. Darum war der Takt überaus gleichmässig: Eins – zwei – drei – eins – zwei – drei … Wenn aber Robert dazutrat, veränderte sich der Rhythmus. Aus dem ungeraden Takt wurde ein gerader: Eins – zwei – drei – vier – eins – zwei – drei – vier - eins – zwei – drei – vier … Bei dieser Veränderung erfuhr der Bub eine weitere Initiation: Die Bedeutung der Pulsation.

 

In der Schule wurde viel gesungen. Jeden Tag zwischendurch und zudem noch an zwei ordentlichen Stunden pro Woche. Daneben gab es den Gemeindegesang im Gottesdienst und die wöchentlichen Proben des Frauenchors, des Männerchors und des Jugendchors. Robert sang aus voller Kehle mit, oft mit Auszeichnung.

 

Nach dem Tod der Mutter (das Kind erlebte ihn im Alter von fünf Jahren) brachte die Stiefmutter, als Robert elf war, ein Harmonium ins Haus. Das Instrument übte eine solche Faszination aus, dass es der Bub verbotener­weise spielen lernte. Sogar mit der Kirchenorgel freundete er sich an. Dann kam das Weihnachtsfest.

 

Als Robert sein Paket entgegennahm, wallte heftige Freude in ihm auf: „Endlich die ersehnten Schlittschuhe!“ Doch in der Schachtel befand sich bloss ein Buch: „Systematische Anleitung zum Spiel des Harmoniums“. Der Bub war empört. Aber der Vater rief: „Lies doch! Da steht ‚Spiel‘! Das wird dir Spass machen!“ In Ermangelung anderer Spielsachen begann Robert, das Buch durchzuarbeiten. Er brachte sich das Notenlesen bei. Er entwickelte instrumentale Virtuosität.

 

Dann kam das Akkordeon dazu. Der junge Mann, der den Kindern die Haare schor, spielte ihnen am Schluss der Sitzung immer noch etwas auf der Handorgel zur Belohnung fürs Stillsitzen vor. Robert liess sich die Funktion der Knöpfe erklären. Dann hielt er daheim die Tastatur für die linke und die rechte Hand gleich auf Karton fest und begann zu üben. Die Töne hörte er im Kopf.

 

Unterdessen zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Robert Mermoud ins Lehrerseminar müsse. Vier Jahre dauerte die Ausbildung. Sie sollte den Lehrer befähigen zum Schuldienst, selbstverständlich, aber auch zum Dienst an der Gemeinschaft. Deshalb gehörte es auf dem Land zum Job, dass der Lehrer die Orgel spielte und die Chorproben leitete. Dafür trug er den Ehrentitel „le régent“.

 

Während der ersten beiden Jahre war Robert Mermoud voll damit ausgelastet, den Unterricht für seine Gesamtschule (sie umfasste sieben Klassen) zu organisieren: „Eine wertvolle Zeit. Ich lernte, meine Arbeit einzuteilen und die Schüler zu einer disziplinierten Haltung zu führen.“

 

Dann aber begann er, dass Berufsziel Chorleiter anzustreben. Alle vier Jahre schrieb der Kanton ein dreitägiges Examen aus. Die verlangten Fähigkeiten standen in einem Reglement, das für fünfzig Rappen erhältlich war. Viele Kompetenzen brachte sich Robert Mermoud selber bei. Für spezielle Fragen aber holte er sich Unterricht. Fürs Dirigieren sprach er bei Felix Weingartner vor. Der berühmte Musiker war bereit, ihn als Schüler anzunehmen, zu einem Honorar von fünfzig Franken pro Lektion.

 

Bei einem Monatsgehalt von dreihundert Franken leistete sich Robert Mermoud das Maximum: zwei Lektionen pro Monat. Dann setzte er während fünf Monaten das Unterrichten aus, um das Examen vorzubereiten. Er und seine Frau lebten in dieser Zeit von ihrem Lehrerinnenlohn: 230 Franken pro Monat. „Eine wertvolle Zeit“, sagt Robert Mermoud rückblickend. „Wir lernten, das wenige, das wir hatten, sinnvoll einzuteilen.“

 

Als das Einkommen wieder stieg, nahm Robert Mermoud Kompo­sitions­unter­richt bei > Bernard Reichel. Er wollte lernen, die technischen Schwierig­keiten zu verstehen, die ihm in den Partituren auffielen, und begreifen, wie er diese Stellen dirigieren solle. Dabei lernte er ungesucht selber das Komponieren. Am Ende, als er den Chor der „Grange sublime“ (der erhabenen Scheune) in Mézières übernahm, entstanden aus seiner Feder grosse Nummern für die Aufführungen im Théâtre du Jorat.

 

Sein ganzes Leben lang führte Robert Mermoud die Menschen mit der Musik zusammen – als Hörer und als Ausübende. Er hatte das Glück, in einer Zeit der grossen, blühenden Laienchöre zu wirken. Einzelne Gruppierungen waren so begabt, dass er Johann Sebastian Bach mit ihnen aufführen konnte oder Arthur Honegger und Frank Martin. Jedesmal wurden die festlichen Aufführungen begleitet vom Orchestre de la Suisse romande oder dem Orchestre de chambre de Lausanne, und als Solisten wirkten Künstler wie Margaret Price oder > Éric Tappy mit.

 

Als festes Standbein hatte Robert Mermoud zwanzig Jahre hindurch eine Stelle für Musik und Arithmetik am Collège de Montreux. Das Rechnen gab ihm bei den Schülern Autorität. Sie nahmen deshalb auch seinen Gesangs­unter­richt ernst. Die besonders Begabten formierte er zum sogenannten „kleinen Chor“. Er trat jeden Tag in der Neunuhrpause zusammen: „Wenn vier anwesend waren, begann die Probe. Währenddem traten die andern hinzu. Einzelne standen mit dem Lateinbuch dabei. Das war erlaubt. Aber dann verlangte ich von allen für eine Minute volle Konzentration. Mit diesem täglichen Exerzitium brachten wir es auf fünfhundert Radioaufnahmen. Sie wurden Samstag für Samstag in der Sendung ‚Jugend singt‘ ausgestrahlt.“

 

Wie weit man mit mässigem, aber regelmässigem Training kommt, zeigt auch der akademische Weg von Walther Killy. Der grosse Philologe krönte seine Universitätskarriere (Berlin – Göttingen – Bern) als Leiter des wissenschaftlichen Forschungsprogramms der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. In seiner Berner Zeit stand an der Haustür (und im Telefonbuch): „Man bittet, zwischen 13 und 15 Uhr jede Störung zu unterlassen.“ Die „ungestörte Zeit“ aber gehörte nicht der Siesta, sondern der Lektüre. Deshalb konnte Killy auf meine verwunderte Frage: „Woher wissen Sie das alles?!“ mit koketter Bescheidenheit antworten: „Die stete Dosis macht’s!“

 

Killy und Mermoud führten die Menschen zu nachhaltigen Begegnungen mit Kunst. Über den Wert solcher Erfahrungen hat der Berner Erziehungs­wissenschafter Jakob R. Schmid nachgedacht:

 

Ich denke, dies alles lasse sich in den Begriff der Harmonie vereinen. Harmonie heisst Aufgelöstheit des Gegensätzlichen im Einklang, Aufgehobenheit der Vereinzelung in der Einheit, Überwundenheit des Zerrissenseins.

 

Das Schöneitserlebnis ist immer die Antwort auf die Frage, ob das, was wir vom Leben täglich haben, die ganze Wahrheit über das Leben sei. Es ist die Antwort auf die Sehnsucht, dass Leben mehr sei als immer neue und doch nie sich ganz erfüllende Zwecksetzung, dass es noch anderes sei als Spannungen und Konflikte, anderes als unerbittlich Endliches, anderes als Müssen und nicht immer Können und nie ganz Können, anderes als Schuld … Wir können also Schönheit nur empfinden dann, wenn wir uns fragen, ob das, was wir vom Leben wissen, auch wirklich sein ganzer Sinn sei. Und Schönheit ist dann die Antwort, dass es nicht so sei, dass es eine andere Wahrheit, noch eine Wahrheit über das Leben gebe. Darum hat Schönheit etwas Tröstliches, und andererseits kann sie etwas Bestätigendes haben. Wir sind ja für sie besonders empfänglich als Trauernde und als Beglückte, also dann, wenn die eine Wahrheit über das Leben uns niederdrückt, und dann, wenn wir glauben, schon etwas von der anderen Wahrheit in den Händen zu haben.

 

Was der Pädagogikprofessor philosophisch ausdrückte, fasste der Bauernsohn Robert Mermoud in den Worten zusammen:

 

Immer nach oben blicken. Aber mit dem Platz zufrieden sein, an dem man steht.

 

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