Bernard Reichel: Komponist.

3. August 1901 – 10. Dezember 1992.

 

Aufgenommen am 14. Oktober 1980 in Lutry.

Bernard Reichel – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Als „Zeitzeuge“, wie wir heute gerne sagen, führt uns Bernard Reichel an den Beginn des letzten Jahrhunderts zurück. Wenn der französische Schulbuchautor Edouard Bled seine Memoiren überschrieb mit: „Um 1900 war ich ein Jahr alt“ (J’avais un an en 1900), so kann der Komponist und Harmonielehrer erklären: „Um 1900 wurde ich gezeugt“. So führen die „Plans Fixes“ mit ihm in längst versunkene Verhältnisse: Die Welt von gestern. Und der Film, der seine Erinnerungen festhält, ist auch von gestern. Er entstand vor 42 Jahren. Tempi passati. <

 

„Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden …“ Mit diesen klassischen Worten beginnt Stefan Zweig das Erinnerungsbuch, nach dessen Abschluss er sich zusammen mit seiner Frau im brasilianischen Exil am 23. Februar 1942 den Tod gibt.

 

Das Vorher heraufzubeschwören ist auch das Ziel von Edouard Bled. Bekannt wurde der Schulbuchautor durch seinen „Cours d’orthographe. Cours moyen, classe de fin d’études“. 40 Millionen Franzosen haben mit dem Buch ihre Kenntnisse in Rechtschreibung gefestigt.

 

Edouard Bled sieht den entscheidenden Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart darin, dass früher überall Gesang zu hören war. Auf dem Feld sangen die Bauern zum Heuen und Ernten. Auf der Baustelle pfiffen und sangen die Maurer auf ihren Leitern. Im Haus sangen die Mütter, Köchinnen und Kinder zum Rüsten, Kochen, Abwaschen.

 

In ihrem „Plans Fixes“-Porträt antwortet die Schriftstellerin > Sylviane Roche auf die Frage: „Wie möchten Sie Ihren Nachkommen in Erinnerung bleiben?“ mit dem Satz: „Als die Frau, die in der Küche sang, während sie für die Familie Clafouti und Apfelkuchen zubereitete.“

 

Demzufolge wuchs Bernard Reichel mit Jahrgang 1901 in einer Welt selbstproduzierter Töne auf. Die Familie sang. Der Vater spielte Geige. Und alle Kinder lernten ein Instrument, aber nicht allein für sich, sondern auch fürs Zusammenspiel mit den andern. Abends trug die Mutter den Kindern vor dem Einschlafen noch ein Kirchenlied vor.

 

Bernard griff mit drei Jahren zum ersten Mal ins Klavier. Er suchte ihm Harmonien zu entlocken, die ihn faszinierten. (Fünfzig Jahre später wurde er Harmonielehrer am Konservatorium Genf.) Mit zehn beherrschte er das Instrument. Nun entdeckte er durch das Spiel von Bearbeitungen zu vier Händen die gesamte musikalische Literatur: „Wir hörten damals nur Musik, die wir selber machten.“

 

Den Menschen im Pfarrhaus ging es demzufolge nicht anders als Jacob Burckhardt in seiner Klause. Am 30. Dezember 1875 schrieb der Professor an seinen Freund Heinrich Preen:

 

Von Abend 8 Uhr an, da ich meine Feder auswische, lese ich nicht mehr, sondern musiziere, was für mich ein ganz unbedingtes Lebensbedürfnis geworden ist; in die Kneipe gehe ich erst um 9 Uhr und nur etwa 3 Abende in der Woche, sonst bleibe ich an meinem Klavier.

 

Vierzehn Jahre später, am 5. Juni 1889:

 

An schönen Sonntagen fahre ich jetzt abends nach Rheinfelden oder nach Frenkendorf, Haltingen etc., bummle dann ein Stündchen in der Nähe, esse zu Abend und fahre zurück. Die meisten Abende von neun bis elf Uhr bin ich am Klavier und trinke dazu italienischen Wein.

 

„Es gab damals noch keine Autos“, erklärt Bernard Reichel. „Die Leute blieben daheim.“ Deshalb blühte auch das Vereinswesen. Der protestantische Chor von Le Locle, wo der Vater die Gemeinde der deutschsprachigen Uhren­arbeiter betreute, hatte hundert Mitglieder mit vielen grossartigen Stimmen. (> André Charlet, Dirigent der benachbarten „Chorale du Brassus“, konnte ein Lied davon singen.)

 

Als der 24-jährige Dirigent und Organist Charles Faller den Chor übernahm, trieb er die Präzisionsarbeiter der Marken Zodiac, Tissot, Zenith und Ulysse Nardin zur Johannespassion an – also der Wiedergabe einer Grande complication von Johann Sebastian Bachs Gnaden.

 

Bernard Reichel erlebte das Ereignis nicht von Zuhörerbank aus – er leitete es mit. Charles Faller hatte nämlich seine Begabung entdeckt und ihm das Orgelspiel beigebracht. Wenn er jetzt wegen Abwesenheit eine Probe nicht leiten konnte, setzte er den 14-Jährigen als Dirigenten ein.

 

Mit 14 wurde der Schüler auch schon Organist in einer benachbarten Kirch­gemeinde. Für den Weg, im Winter durch Schnee und Eis, brauchte er eine Stunde. Mit dem Honorar konnte er sich Noten kaufen. (Später wurde er Organist an mehreren protestantischen Kirchen und ab 1944 am Temple des Eaux-Vives in Genf.)

 

Nach zwei Jahren am Konservatorium Basel, wo er Komposition bei Hermann Suter und Orgel bei Adolf Hamm studierte, wurde ihm eine Demonstration von Emile Jacques-Dalcroze zur Offenbarung. Der Pädagoge (Schüler von Anton Bruckner und Léo Delibes) verband Musik mit Bewegung. Daraus entstand die Ausdrucksgymnastik, die sich über die Schülerin Mary Wigman auf den modernen Ausdruckstanz und das Pantomimentheater auswirkte.

 

Zwei Jahre studierte Bernard Reichel an Genfer Institut von Jacques-Dalcroze. Dann schickte ihn der Meister für zwei Jahre zum Kompositionsstudium nach Paris zu Ernst Lévy.

 

In Genf zurück, wurde er mit 24 Jahren am Institut Jacques-Dalcroze Lehrer für Rhythmik, Solfège, Harmonielehre und Improvisation (und damit Kollege von > Edith Naef). Emile Jacques-Dalcroze liebte die Improvisation. „Bei Klavierkonzerten verliess er gern die gedruckten Linien“, erzählt Bernard Reichel. „Da war ich als Dirigent gefordert, das Ganze zusammenzuhalten. Ansermet aber würdigte in einer begeisterten Kritik die Kombination von Klassik und Improvisation.“

 

Bei Jacques-Dalcroze fand Bernard Reichel auch seinen Kompositionsstil: „Er wollte, dass man aus seiner Mitte heraus schafft. Darum bekam die Musik bei jedem seiner Schüler einen anderen Ausdruck.“

 

Bernard Reichel legt zwei Finger aufs Klavier: „Manchmal schlage ich nur einen Akkord an, um zu prüfen, ob das Instrument richtig gestimmt ist, und manchmal verleiten mich die Harmonien, eine Ergänzung zu suchen. Wie das geschieht, kann kein Komponist sagen.“ (Anschaulich erzählt Reichels Kollege > Jean Daetwyler, wie er einen Einfall verfolgt; es gibt Melodien, die tragen nur ein paar Takte, andere wachsen aus zu einem ganzen Satz.) Reichel erklärt: „Oft komme ich beim Gehen auf Melodien. Am häufigsten beim Aufstieg in den Bergen.“

 

Richard Wagner hat das ebenfalls entdeckt. Hans Erismann:

 

Wagner wird in der Schweiz zum unermüdlichen Wanderer, den es in Schaffensnöten stets in die Berge zieht, zuerst in die Voralpen und – je weiter sein „Ring des Nibelungen“ sich entwickelt – immer höher hinauf.

 

Auf seinen Alpenwanderungen hat er Visionen. Auf der Julierpasshöhe sieht er „die freie Gegend auf Bergeshöhe“ mit Wotan und Fricka im „Rheingold“, im Klöntal findet er den langgesuchten Schluss, die sogenannte Apostrophe der gleichen Oper. Könnte er sich nicht auch zum Beispiel auf dem Surenpass, einem der wildesten und mühsamsten Alpenpässe – auch heute noch eine Urwelt –, angesichts der gewaltigen Felsentürme Walhalla vorgestellt haben? Jedenfalls war er dort oben, als die Götterburg in seiner Phantasie Gestalt annahm. Hat Wagner auf dieser Wanderung in Nidwalden wohl auch das Drachenloch bei Stansstad gezeigt bekommen, wo zwar nicht Siegfried, dafür aber Winkelried den Drachen erschlug? Wen wundert’s, wenn sich Wotan im „Siegfried“ im Gewand eines Wanderers präsentiert?

 

Es liegen, erklärte Goethe, „produktivmachende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf; sie liegen aber auch in der Bewegung. Es liegen solche Kräfte im Wasser und ganz besonders in der Atmosphäre. Die frische Luft des freien Feldes ist der eigentliche Ort, wo wir hingehören; es ist, als ob der Geist Gottes dort den Menschen unmittelbar anwehte und eine göttliche Kraft ihren Einfluss ausübte.“

 

Bernard Reichel hat sich nicht im klimatisierten Fitnessstudio bewegt und seine Kompositionen nicht am Computer geschaffen ... So ging es damals noch zu, in der Welt von gestern.

 

248 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0