Edith Naef: Rhythmiklehrerin.

15. Januar 1898 – 14. März 2007.

 

Aufgenommen am 3. Februar 1996 in Genf.

Edith Naef – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Schon nach vier Minuten ist klar: Mit Edith Naef übermitteln die „Plans Fixes“ nicht nur ein Filmporträt, sondern einen Booster an Daseinsfreude, der je länger je mehr die heilende Kraft eines Antidepressivums annimmt. Die faszinierende Rhythmiklehrerin reisst den Betrachter aus den Odiosa seiner Zeit. („Nichts als Odiosa, Geschäfte, Unwesen im Hauswesen“ schimpft bei Johann Nepomuk Nestroy ein Gewürzkrämer namens Zangler.) Edith Naef aber steht ausserhalb der Zeit. Bei der Aufnahme ist die lebensvolle, charmante Dame erst 98. Sie wird noch das Alter von 109 Jahren erreichen. <

 

Edith Naef hat einen leuchtenden Lebenslauf absolviert, der sie fadengerade durch die Zeit führte und ihrem Gesicht Glanz von innen gab. Zugut kam ihr, dass sie schon im Kindergarten mit ihren Füsschen die richtige Bahn betrat. Sie besuchte, auf Wunsch der Mutter, eine Fröbelschule. Das war um 1900 in Genf revolutionär. Aufbruch erfuhr Edith ebenfalls beim Solfège- und Klavierunterricht. Sie lernte das Musizieren nach der Methode Chassevent. Auch hier also: Avantgarde. Der Zeit voraus sein. Das Rezept für Lebendigkeit.

 

Mit neun Jahren kam Edith zu Emile Jaques-Dalcroze, dem Reformer der Musikpädagogik. In der „classe de solfège supérieur“ nahm das Mädchen alle Anweisungen freudig auf. Es trank sie „wie Milch“, erzählt die Hochbetagte. Nach einem Monat sprach der Lehrer bei den Eltern vor, um Edith in seine Rhythmikklasse aufzunehmen.

 

Ein Jahr später wurde sie mit ihrer gleichaltrigen Freundin Dora für eine Demonstration nach Stuttgart gebracht. Sie musste auf einen Stuhl steigen und zu einem Lied, das ihr vorgesungen wurde, dirigieren. Nachher gab es ein Bankett. „Ich war nicht gewohnt, abends so lange aufzubleiben“, erzählt Edith Naef. „Und jetzt schauen Sie, was für ein Verhältnis wir Kinder zu Monsieur Jaques hatten: Ich kletterte auf seine Knie und schlief, während er ass, an seiner Brust ein.“

 

Am nächsten Morgen erblickten die jungen Genferinnen aus den Fenstern ihres Hotels ein Wunder: Die Kinder kurvten in Stuttgart schwerelos auf dem Platz herum! Während Edith Naef davon spricht, bekommt sie leuchtende Augen. Monsieur Jaques aber kaufte jeder Schülerin auf der Stelle ein paar Rollschuhe. Dieses unvergessliche Geschenk machte er ihnen … vor 112 Jahren.

 

Ebenfalls vor mehr als hundert Jahren kam Edith Naef auf den Beruf der Rhyth­mik­lehrerin. Drei, vier mal, erzählt sie, hatte sie am Konservatorium Genf eine Klavierklasse überspringen können. Doch als sie das Aufnahme­stück von Scarlatti für die „classes supérieures“ vorgespielt hatte und sich auf dem Klavierstuhl zum Professor umwandte, sah sie, wie er die Schultern hob und den Mund nach unten zog. „Das hat mich volle vier Jahre lang blockiert. Ich machte nicht den geringsten Fortschritt mehr.“

 

Doch der Professor beruhigte sie: „Gerade, wenn man keine Fortschritte macht, passiert das Wesentlichste.“ Edith Naef gibt nun die Lektion weiter, indem sie sich zur Kamera dreht: „Das Neue bereitet sich im Innern vor, ohne dass man es merkt. Aber eines Tages tritt es ans Licht. Das habe ich an mir selber erfahren.“

 

Mit 19 Jahren beginnt Edith Naef am Institut Jaques-Dalcroze zu unterrichten. Acht Jahre später, 1925, wird der junge Komponist > Bernard Reichel ihr Kollege. In seinem Porträt bestätigt er die Liberalität des Meisters: Es gab keinen Zwang. Jeder Lehrer sollte die Methode des ganzheitlichen rhythmischen Erlebens auf seine Weise umsetzen.

 

Der unideologische Pragmatismus führte dazu, dass Monsieur Reichel auf eine andere Art unterrichtete als Mademoiselle Naef. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.“ (Johannes 14, 2) Die „vorwissen­schaftliche“ Auffassung des Lehrens vertrat noch der Fussballtrainer > Jacques Guhl im Jahr 2013: „Praxis vor Theorie, Freiheit vor Zwang! Zuerst müssen die Kinder Fussball spielen dürfen. Später lernen sie schon, was sie brauchen. Man darf in der Ausbildung nicht alles über einen Leisten schlagen.“

 

Im Unterricht passt Edith Naef die Übungen den Schülern an. Mit 98 gibt sie eine Stunde pro Woche für Kinder und zwei Stunden pro Woche für Frauen zwischen sechzig und achtzig.

 

Im Zentrum der Methode Jaques-Dalcroze steht die Freude. Sie wird geweckt durch die exakte Bewegung von Armen und Beinen. So schafft der Körper nach, was die Musik ausspricht. Und in der Kombination von Raum, Zeit und Energie erweist sich die Rhythmik als Lebenselixier.

 

Wie das aufzufassen ist, zeigt die Demonstration. Edith Naef wendet sich dem Klavier zu, beginnt zu spielen, und die Interviewerin Nancy Ypsilantis führt die vorgeschrie­benen Bewegungen aus. Der Körper macht die Struktur der Musik sichtbar.

 

Nun kommt der Film zu einer letzten Steigerung. Edith Naef zeigt, wie sie die Kinder mit dem Klavier anfreundet, noch bevor sie die Noten kennen. Am Flügel nimmt dafür die achtjährige Alice Beuchat Platz. Sie hat gelernt, Bilder in Töne zu übersetzen. Jetzt zeigt sie, wie „Die kleine Mühle“ klingt. Und wie „Die Glocken“. Beim „Pferdchen“ galoppieren die kleinen Hände über die Klaviatur wie Hufe über eine Wiese.

 

Während der Demonstration lebt in das Kind seinem Spiel, und die Lehrerin lebt im Kind. In Zahlen sind sie durch neunzig Jahre getrennt. Doch im Erlebnis sind sie beisammen. Und wer den Film zu Ende schaut, wird mit ihnen im überzeitlichen Raum geteilter Gegenwart von Daseins­freude erfasst.

 

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