Pierre Gerber: Geigenbauer, die Seele der Violine.

27. März 1912 – 6. September 2007.

 

Aufgenommen am 13. November 1986 in Lausanne.

Pierre Gerber – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> An der Schule war Pierre Gerber ein Dussel (un cancre). Die Eltern, die zur Elite der Lausanner Musiker zählten (die Mutter war Pianistin, der Vater Violinist, Schüler von Joseph Joachim und Professor am Konservatorium), mussten den Sohn, der sich nur fürs Zeichnen interessierte, in eine Lehre geben: Geigenbau. Am Ende aber wurde er auf diesem Gebiet selber ein Star. <

 

Wer Pierre Gerber ist – beziehungsweise welchen Status er in der internationalen Musikwelt geniesst – zeigt sich gleich am Anfang des Films aus dem Jahr 1986. Vor der Kamera der „Plans Fixes“ wendet er sich ab zur Wand. Da stehen von oben bis unten und von links bis rechts in schwarzen Rahmen dichtgehängte Fotoporträts, viele mit Widmung oder Unterschrift. Es sind die Bilder der Freunde, deren Instrumente er betreut. Die Besten der Besten.

 

Ihre Geigen bauten hauptsächlich Antonio Stradivari (1644-1737) und die Mitglieder der Familie Guarnieri, in erster Linie Giuseppe Antonio (1698-1744), der bedeutendste Meister neben Stradivari. Alle wirkten in Cremona. Die Streichinstrumente, bis heute unübertroffen, vereinigen auf einzigartige Weise klare und präzise Artikulation mit lieblicher Süsse, Klangstärke und grosser Tragweite des Tons. Pierre Gerber macht, dass sie spielbar bleiben. Mehrmals im Jahr kommen die Künstler in Lausanne vorbei, um die Instrumente von ihm behandeln zu lassen. Doch wenn es eilt, fliegt er auch zu ihnen.

 

Johanna Martzy, die ungarische Solistin, ruft um Hilfe. Sie nimmt 1955 für EMI die Bach-Sonaten in Hilversum auf. Doch das Instrument hat den Ton verloren; es pfeift. „Ich bringe das in Ordnung“, beschwichtigt der Meister. „Überlassen Sie mir die Geige für diese Nacht.“ Den Filmzuschauern erklärt er: „Die Luft dort oben war viel zu trocken. Also liess ich im Hotel etwas Wasser in die Badewanne laufen und hing die Geige über das Becken. Am nächsten Morgen war der Klang wieder strahlend. Die Violonistin war ausser sich. Doch nach ein paar Stunden begann die Geige wieder zu pfeifen. Es blieb nichts anderes übrig, als die Aufnahmestunden auf den Morgen zu verlegen.“ Heute werden Johanna Martzys Vynilplatten in den Liebhaberkreisen gehandelt. Die letzte wurde am 13. Februar gekauft. Zur Stunde befindet sich keine weitere im Angebot. Die Solopartiten werden mit 5/5 bewertet. Der Durchschnittspreis beträgt 483.52 Franken.

 

Für die Solistin Chung Kyung-wha, die Schwester des Dirigenten Chung Myung-whun, passte Pierre Gerber zwischen Weihnachten und Neujahr das Instrument an. Er gab der Guarnieri einen neuen Hals, korrigierte den Winkel und baute einen neuen Bassbalken ein. Die Solistin konnte das Wunder kaum fassen und erzählte überall herum, wie gut das Instrument geworden sei. Aus London erkundigte sich ein Journalist der „Times“ nach der Behandlung. „Aber sowas geht doch nicht“, ruft Pierre Gerber mit Entrüstung. „Ich habe den Mann gleich spazieren geschickt!"

 

Pierre Gerber zeigt auf auf ein Bild des Cellisten Gregor Piatigorsky. Igor Markewitsch hatte ihm das Atelier in der Rue de Bourg für seine Stradivari empfohlen. „Ein grosser Musiker und ein ungemein grossgewachsener Mann“, erklärt der Geigenbauer. „Das Erstaunlichste jedoch waren seine Füsse. Ich holte meine Frau: ‚Was er wohl für eine Schuhnummer hat?‘ Sie meinte: ‚Mindestens 65.‘“

 

In der Werkstatt brachte der Zufall auch Nathan Milstein und Isaac Stern zusammen. Sie sahen sich sonst nie, denn die Konzertpläne waren zu unterschiedlich. Jetzt aber fielen sie sich um den Hals und fingen gleich an zu musizieren. Der eine hatte eine Stradivari, der andere eine Guarnieri. „Ich hätte diesen Moment aufnehmen müssen“, sagt Pierre Gerber. Die Künstler kamen auf den Gedanken, die Instrumente zu tauschen. Doch es zeigte sich, dass keiner die fremde Geige richtig zu behandeln wusste. Jeder schimpfte über ihren schlechten Klang: „Da, nimm sie zurück! Ich behalte lieber die meine.“

 

Bei einem Besuch schilderte Arthur Grumiaux, wie er arbeite, und hörte sich mit Pierre Gerber eine Sonate an, die er mit Clara Haskil aufgenommen hatte. „Diese Stelle“, rief er aufgeregt, „diese Stelle haben wir nie geprobt. Und hör, sie ist vollkommen!“ Das Wasser schoss dem Künstler in die Augen. Während Pierre Gerber davon erzählt, wird er selber von der Emotion überwältigt.

 

In dem halben Jahrhundert, in dem der 74-Jährige seine Werkstatt betrieb, kamen die Besten der Besten über seine Schwelle. Sie hatten viel zu erzählen und teilten auch gern eine Mahlzeit. Dafür brauchte Frau Gerber gar nicht gross aufzutischen. Es genügte eine Tête de Moine, jener würzige, kreisrunde Halbhartkäse aus Bellelaye, der nicht geschnitten, sondern zu Flocken geschabt wird und sein Aroma am besten entfaltet, wenn ihn Pellkartoffeln und Weisswein vom Genfersee begleiten.

 

Viele der Freunde und Kunden, die Pierre Gerbers Atelier aufsuchten, findet man heute in Wikipedia: Zino Francescatti, Yehudi Menuhin, Pierre Fournier, Sandor Végh, Rugiero Ricci, Pierre Fournier, Henrik Szeryng, Hansheinz Schneeberger und > Victor Desarzens. Der Geigenbauer jedoch, dem sie ihre Instrumente anvertrauten, hinterliess im Netz nicht eine Spur. Zum Glück haben ihn die „Plans Fixes“ in ihre Sammlung bedeutender Persönlichkeiten aufgenommen.

 

Die Kamera folgt Pierre Gerber noch ins Allerheiligste. Da nimmt er mit Werkzeugen, die sich in sechshundert Jahren nicht verändert haben, eine Violine auseinander. Er schabt auf seinen Knien den Geigenkörper zurecht. Das Holz liegt auf seiner Schürze wie ein nacktes Kind, und die Sequenz beglaubigt Nicolás Gómez Dávilas Bemerkung: „Nur ein von Hand gemachtes Objekt bekommt eine Seele.“

 

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