Marie Claude Morand: Die auf Schönes Hinweisende.

12. September 1950 –

 

Aufgenommen am 10. Februar 2016 in Troistorrents.

Marie Claude Morand – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Obschon sich Marie Claude Morand ein Leben lang mit Kunst beschäftigte, hat sie im engeren Sinn kein Werk hervorgebracht. Sie stand nur („nur“ in Anführungszeichen) während dreissig Jahren den vier Museen des Kantons Wallis vor, die sie in der Zeit ihres Wirkens unter einem Dach vereinigte. Beruflich nennt sie sich eine Person, die auf Schönes hinweist („une montreuse de beau“). Menschen ihres Schlags bezeichnet die Typen­psychologie als Einfühlungsminister. <

 

Wenn die Psychologinnen Stefanie Stahl und Melanie Alt den Einfühlungsminister charakterisieren, tritt hinter den Formulierungen gleich Marie Claude Morand ans Licht:

 

Einfühlungsminister sind liebenswert, zurückhaltend und tiefgründig. Es ist schwer, einen Einfühlungsminister richtig kennen zu lernen – weil er so vielschichtig und unergründlich ist, überrascht er immer wieder mit neuen Seiten.

 

Einfühlungsminister sinnieren gern über die „grossen Fragen des Lebens“ und interessieren sich für die Zusammenhänge und Beziehungen zwischen den Dingen und zwischen den Menschen, die nicht auf den ersten Blick zu erfassen sind. Neben ihrer Menschenkenntnis haben Einfühlungsminister häufig treffsichere Visionen und Ahnungen, was gesellschaftlichen Wandel und Veränderungen anbelangt.

 

Viele Einfühlungsminister sind beruflich sehr engagiert und erfolgreich: durch ihre intuitive Veranlagung sind ihnen eine quasi unersättlicher Neugier und ein nie endendes Bestreben mitgegeben, den Dingen auf den Grund zu gehen. Weil sie das Abstrakte und Theoretische mögen, findet man sie häufig in wissenschaftlichen Berufen. Andere Arbeitsfelder, die Einfühlungsminister anziehen, haben im weitesten Sinne oft geistige, philosophische oder psychologische Inhalte. Viele Einfühlungsminister sind sehr sprachbegabt.

 

In den drei ersten Abschnitten ihrer Darstellung nehmen die Typenpsycho­loginnen vorweg, dass Marie Claude Morand äusserst beredt von ihren Überlegungen und Interessen sprechen kann. Aber weil sie das Abstrakte und Theoretische mag, ist das Gemeinte für Aussenstehende recht schwer verständlich – ausser an jenen Stellen, wo sie konkret wird; etwa wenn sie schildert, wie sie Laien ein Bild erklärt: „Achten Sie auf diese Linie!“ Durch das sprechende Detail gehen den Menschen die Augen auf für jene Qualitäten, die nicht auf den ersten Blick zu erfassen sind.

 

Aber was will man? Wir befinden uns mit Marie Claude Morand auf dem Gebiet der komplexen und vielschichtigen Überlegungen, wie die Typen­psychologinnen sagen. Wenn die Studenten zu Verallgemeine­rungen drängten, pflegte deshalb der grosse Literaturprofessor Walther Killy den Finger zu heben: „Nicht so rasch, meine Lieben! Schwierige Sachen sind schwierig!“ Die schwierigen Sachen nun, die Marie Claude Morand beschäftigen, fragen nach dem Schönen und der Bedeutung der Kunst. Auf diesem Gebiet interessieren sie die Zusammenhänge und Beziehungen zwischen den Dingen und zwischen den Menschen.

 

Im Gespräch fallen die Begriffe „Kultur“ und „Identität“, und zwar bezogen auf das Wallis. Marie Claude Morand will den Besuchern ihrer Museen, den einheimischen und dem fremden, Bilder des Landesteils und seiner Bewohner vermitteln, die treffender und differenzierter sind als das Klischee. Selbst­verständlich geht das nicht ohne Überraschung, Herausforderung und Widerspruch. Was nämlich die lebenden Walliser Künstler zeigen, stösst viele ab. Sie stellen, anstatt Herkömmlichkeit, gesellschaftlichen Wandel und Veränderungen dar.

 

Schön wäre es, wenn Marie Claude Morand – wie zum Beispiel der Fotograf und Tierfilmer > René-Pierre Bille, der Schriftsteller > André Guex oder der Journalist > Pascal Thurre, – zu konkreten Aussagen über das Bild vom Wallis käme, welches sie als Direktorin der Walliser Museen vermitteln wollte. Aber das entspricht nicht ihrem Typ: Aufgrund ihrer introvertierten Neigung fällt es den Einfühlungsministern manchmal schwer, anderen ihre oft komplexen und vielschichtigen Überlegungen mitzuteilen – oft haben sie auch gar nicht das Bedürfnis danach.

 

Von Florence Grivel eingeladen, vor der Kamera der „Plans Fixes“ über ihren Werdegang nachzudenken, bemerkt Marie Claude Morand, dass sie seit der Kindheit von einer Hauptfrage angetrieben wurde. Der Vater, ein äusserst wortkarger Mann, hatte aus dem Fenster gewiesen und gesagt: „Schau, wie schön das ist!“ (Regarde comme c'est beau !) Das Mädchen erfasste wohl die Schönheit der Ansicht, verstand aber nicht, was sich hinter dem Wort „wie“ verbarg. Die Frage, „wie“ etwas schön sei, beschäftigte Marie Claude Morand in der Folge das ganze Leben lang.

 

Ihrem Interesse kam entgegen, dass der Professor, bei dem sie Kunst­geschichte studierte, die Beziehung zwischen Werk, Gesellschaft und Epoche ins Zentrum seiner Untersuchungen stellte. Dieses Problemfeld war es auch, das Marie Claude Morand interessierte, nicht: „Der Künstler und seine Sensibilität“, sondern: „Der Künstler und sein Umfeld“. Die Frage war: Was lässt sich aus Leben und Werk über die Zeit und die Auffassungsweise der damaligen Menschen ableiten? Einfühlungsminister brauchen eine Arbeit, mit der sie einen übergeordneten Sinn verbinden können, eine Arbeit, die mit ihren inneren Einsichten und Werten im Einklang steht.

 

Das Erkenntnisstreben brachte Marie Claude Morand dazu, sich mit 34 Jahren für die Leitung des Walliser Kunstmuseums zu bewerben. Und da sich damals ein Teil des Kantons gerade im Aufbruch befand, halfen ihr die vier Punkte, die traditionellerweise ihre Wahl verhindert hätten, zum Durchbruch: Sie war jung, links, weiblich und geschieden. Obwohl Marie Claude Morand, wie sie sagt, vom Charakter her „eher zur Kontemplation neigt“ (konkret bedeutet dies, dass Einfühlungsminister gern in sich versinken und nachdenken), ergriff sie mit Energie die Herausforderung, ein grosses Wirkungsfeld administrativ, organisatorisch und politisch zu managen:

 

Einfühlungsminister streben Führungspositionen vor allem deshalb an, weil sie ihnen die besten Möglichkeiten verschaffen, ihre Ziele und Visionen in die Tat umzusetzen. Der Führungsstil der Einfühlungsminister ist ideenorientiert. Durch ihre – wenngleich auch recht stille – Begeisterung und ihren Enthusias­mus vermögen sie es, andere zu inspirieren und für sich zu gewinnen. Sie überzeugen und motivieren mehr durch ihr eigenes Engagement für die Sache als durch Autorität. Ihr Führungsstil ist häufig auch deshalb sehr erfolgreich, weil sie die jeweiligen Stärken und Talente ihrer Mitarbeiter gut erkennen und für jeden den richtigen Platz in der Gruppe finden. Ein von Einfühlungsministern geführtes Team zeichnet sich zumeist durch harmo­nische Arbeitsbeziehungen und eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit aus.

 

Zur Kombination von aussen und innen, die Marie Claude Morand charakterisiert, führte – so ist zu vermuten – der Umstand, dass sie von Geburt an eine eigene Sicht auf die Welt hatte. Sie war nämlich auf einem Auge blind. Das Hirn jedoch ergänzte die halbe Wahrnehmung zu einer ganzen. Marie Claude Morand erkannte erst im Lauf des Heranwachsens, dass sie, im wahrsten Wortsinn, ein einseitiges Bild der Welt hatte, und sie lernte, ihre Sicht durch andere, fremde, ihr nicht gemässe Sichtweisen zu vervollständigen.

 

Damit durchlief Marie Claude Morand, wie Bruno Brülisauer in seinem Grundlagenwerk „Was können wir wissen?“ darlegt, einen erkenntnis­philosophischen Weg:

 

Alles, was wir über die Welt erfahren, führt dazu, dass wir gewisse Annahmen über die Welt für wahr halten. Nun gibt es aber verschiedene Formen des Fürwahr-Haltens, und diese sind nicht gleichwertig. Was wir erfahren, mag in einem Fall lediglich zu einer vorläufigen Meinung, in einem anderen zu einer mit stärkerer Gewissheit verbundenen Überzeugung, in einem dritten zu einem wohl begründeten Wissen führen. Dass wir bestrebt sind, möglichst viele Meinungen und Überzeugungen in Wissen umzuwandeln, hängt einmal mit einer natürlichen theoretischen Neugierde zusammen, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, zum anderen damit, dass das Wissen eine verlässlichere Grundlage für Prognosen ist und uns eher befähigt, für unsere Zukunft angemessen zu sorgen.

 

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass die Walliser Museen unter der Leitung von Marie Claude Morand aus dem Dornröschenschlaf geweckt wurden. Denn Einfühlungsminister entwerfen gern neue Konzepte und Problem­lösungen.

 

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