Etienne Delessert: Grafischer Künstler.

4. Januar 1941 –

 

Aufgenommen am 6. Oktober 2006 in Pully.

Etienne Delessert – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die „Plans Fixes“ nennen Etienne Delessert nicht einfach Grafiker, sondern grafischen Künstler. Die Bezeichnung deutet an, dass der Mann seinen Beruf nicht bloss als Handwerk versteht, sondern als schöpferische Betätigung, die sich, den Umständen geschuldet, auf bildnerischem Gebiet entfaltet. Es hätte aber auch die Literatur sein können, oder der Film. <

 

Ja, sagt Etienne Delessert zu Bertil Galland gleich zu Beginn der Aufnahme, bei ihm sei das Schreiben vor dem Zeichnen gekommen. Naheliegend, sagen wir, wenn jemand in einem protestantischen Pfarrhaus aufgewachsen ist und für die Matura die „section classique“ mit Griechisch und Latein gewählt hat. Dann schreibt er am Collège (Sekundarschule) Aufsätze, die vorgelesen werden, ermutigt durch den Lehrer Pierre Ansermoz, der nonkonforme Sichtweisen honoriert. Ja, wiederholt Etienne Delessert, das Phantasieren und Erzählen liege ihm einfach im Blut.

 

Dann aber kommt der Bruch. Der Französischlehrer am Gymnasium, > André Guex, verlangt nicht freie Erfindung, sondern Faktentreue, strengen Realismus. Damit wird beim Jungen (den Jungen) das Spiel ausgetrieben. Es kann eben nicht jeder Lehrer ein Donzé sein. Für ihn, den Schriftsteller, Professor, ja Menschen, war Spiel ein Zentralbegriff. „Etwas Spiel“, erklärte er, finde sich bei allem, das funktioniert: Ein Uhrwerk, ein Motor, eine Maschine könnten nicht laufen, hätten sie nicht „etwas Spiel“. Anders gesagt: Ohne „Spiel“ geht nichts. Das allzu satte Anziehen murkst die Bewegung ab, führt zu Reglosigkeit und Erstarrung.

 

Dieser Art Erstarrung unterlag nun Etienne Delessert. Er sagt, er habe damals die Freude am Schreiben verloren. Naheliegend, sagen wir, dass es zum Bruch kommen musste. Nach der Matur kündigte der junge Mann den Eltern in getrennten Gesprächen an, dass er nicht studieren werde, sondern das grafische Gewerbe aufsuchen wolle. Darauf sagten Vater und Mutter gleichlautendend: „Tu’s. Du wirst Hervorragendes zustandebringen!“

 

Der Meister des Ateliers Maffei blickte erstaunt, aber nicht unfreundlich auf, als er den Wunsch des 18-Jährigen vernahm: Er strebe, sagte er, nicht das Studium an, sondern die praktische Arbeit. Darum wolle er keine Lehre absolvieren, auch keine Kunstgewerbeschule, sondern gleich tätig sein und sich auf diese Weise das Gewerbe aneignen (mit Griechisch und Latein im Rucksack kannte Etienne Delessert den Begriff „Learning by doing“ natürlich nicht). Daraufhin nahm der Meister Etienne Delessert unter seine Fittiche.

 

Mit diesem Auftakt, sagen wir, ist schon alles gegeben: Etienne Delessert macht aus sich einen Dilettanten, das heisst einen lebenslangen Anfänger. Alles, was er unternimmt, macht er zum ersten Mal. Und damit bringt er sich von Mal zu Mal weiter. Er wird zu einem Mann nach dem Geschmack Arthur Schopenhauers.

 

Der Philosoph sagte:

 

Das Publikum verwechselt die, welche von einer Sache leben, mit denen, die für die Sache leben, wiewohl dies selten dieselben sind.

 

In Wahrheit ist dem Dilettanten die Sache Zweck, dem Manne vom Fach als solchem bloss Mittel.

 

Nur der aber wird eine Sache mit ganzem Ernste treiben, dem unmittelbar an ihr gelegen ist und der sich aus Liebe zu ihr damit beschäftigt, sie con amore treibt. Von solchen und nicht von den Lohndienern ist stets das Grösste ausgegangen.

 

Folgerichtig, sagen wir, kam es dazu, dass Etienne Delessert eingeladen wurde, verschiedene Folgen für die „Sesame Street“ und die „Muppet Show“ anzufertigen – im Filmstudio, das er als Dilettant gegründet hatte und mit fünfzig Beschäftigten in Lausanne betrieb. Als grafischer Künstler entwarf er die Aufmachung für eine ganze Reihe von Printprodukten in der Schweiz, Frankreich, den USA. Und als Illustrator machte er für Eugène Ionesco die Bilder zu den „Contes 1, 2, 3, 4. Für Kinder unter drei Jahren. Ein Vater erzählt seiner kleinen Tochter Geschichten. Der Vater ist Eugène Ionesco, seine Tochter ist schlagfertig, und Etienne Delessert inszeniert das Ganze in prächtigen Bildern.“ (Gallimard Jeunesse)

 

Für das „Time Magazine“ und die „New York Times“ zeichnete Etienne Delessert das Pressebild zum Leitartikel. Er sagt: „Das ist ein eigenständiges Genre; keine Abbildung, keine Karikatur. Wir kennen das in Europa nicht.“ Bertil Galland: „Aber gibt es denn nicht einen Unterschied zwischen Grafik und Kunst?“ Delessert: „Ich habe schon lange aufgehört, diese Grenze zu machen. Für mich gibt es nur gute Bilder und schlechte Bilder. Man kann bei der Grafik sehr guten Bildern begegnen, und bei der Kunst sehr schlechten. Was für die Sonntagsausgabe der ‚New York Times‘ entworfen wurde, sehen sechs Millionen Menschen. Da dürfen die Bilder nicht schlecht sein.“

 

Es liegt in der Natur der Sache, finden wir, dass ein lebenslanger Dilettant vom kleinen Kind angezogen wird. „Wenn es in die Schule kommt, ist es futsch“, sagt Etienne Delessert. Das junge Wesen ist anfänglich in allem, was es tut, Anfänger – und damit dem Genie verwandt. Arthur Schopenhauer:

 

Um originelle, ausserordentliche, vielleicht gar unsterbliche Gedanken zu haben, ist es hinreichend, sich der Welt und den Dingen auf einige Augenblicke so gänzlich zu entfremden, dass einem die allergewöhn­lichsten Gegenstände und Vorgänge als völlig neu und unbekannt erscheinen, als wodurch eben ihr wahres Wesen sich aufschliesst. Das hier Geforderte ist aber nicht etwa schwer, sondern es steht gar nicht in unserer Gewalt und ist eben das Walten des Genius.

 

In der Folge begann Etienne Delessert, Kinderbücher zu schreiben und zu illustrieren. Die Frage, wie das Kind die Welt sieht, führte ihn mit dem Pionier der Kinderpsychologie Jean Piaget zusammen, der bei dieser Begegnung gewahr wurde, dass er noch gar nie untersucht hatte, wie das Kind Bilder sieht. So begannen nun der Wissenschafter und der Künstler zusammen zu forschen. Die Ergebnisse führten beim einen zu gelehrten Aufsätzen, beim andern zu illustrierten Büchern. Das eine Publikum war gebildet, ja fachmännisch, das andere naiv, aber lebensdurstig. Bei der Arbeit der beiden Männer spielten die beiden Seiten des Intellekts zusammen: Die erkennende und die hervorbringende.

 

Wenn Etienne Delessert sein ganzes Leben hindurch immer wieder neu angefangen hat (auch in seinen Beziehungen, aber über dieses Kapitel sagen wir jetzt nichts) – ein Apekt bleibt bei ihm durchgehend erkennbar. Arthur Schopenhauer hat ihn benannt:

 

Die Werke aller wirklich befähigten Köpfe unterscheiden sich von den übrigen durch den Charakter der Entschiedenheit und Bestimmtheit, nebst daraus entspringender Deutlichkeit und Klarheit, weil solche Köpfe allemal bestimmt und deutlich wussten, was sie ausdrücken wollten – es mag nun in Prosa, in Versen oder in Tönen gewesen sein. Diese Entschiedenheit und Klarheit mangelt den übrigen, und daran sind sie sogleich zu erkennen.

 

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