Francis Bourquin: Schriftsteller.

6. März 1922 – 28. August 2002.

 

Aufgenommen am 23. September 1987 in Villeret.

Francis Bourquin – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Der Weg führte Francis Bourquin aus Villeret im St. Immer-Tal ins Lehrerseminar von Pruntrut (47 km); zur Ausübung des Berufs zurück nach Villeret (47 km); elf Jahre später nach Biel (26 km); am Ende zurück nach Villeret (26 km). Dort verbringt er jetzt den Ruhestand im Vaterhaus: Eine Westschweizer Dichterexistenz des letzten Jahrhunderts. <

 

Das Fenster gibt den Blick auf den Chasseral frei. Die Flanke des Gebirgszugs ist mit Wäldern gesäumt. In der Mitte unterbricht ein Einschnitt den sanft gewellten Horizont: La Combe Grède. Die Schluchtroute führt durch nackte Kalkfelsen auf die höchste Erhebung des Berner Juras (1606 m ü. M.). Francis Bourquin hatte dieses Bild seine ganze Jugend hindurch vor Augen. Und heute wieder, nach der Pensionierung: Auf der Höhe erstreckt sich ein aussichtsreiches, besonntes, weites Plateau.

 

In der Weise, wie Francis Bourquin die Aussicht darstellt, zeigt sich, dass ihn die Landschaft geprägt hat. Seine Rede ist gleich langgestreckt und ruhig wie die Jurahöhen. Anstrengungslos bewegt er sich durch eine Welt, die sich durch Nähe auszeichnet: Das blitzende Rädchen des Uhrwerks, das wache Auge des Schulkinds, das zitternde Schneeglöckchen und der braune Hut des Steinpilzes – alles gleich nah.

 

> Roland Stähli, der Kollege im benachbarten Dorf Tramelan, schrieb 1944 in einer Betrachtung:

 

An Ostern muss man den Weg nehmen, der vom kleinen Bahnhof in Les Reussilles zum Milieu-des-Prés und von dort zu weiteren abgelegenen Höfen führt. Er ist der wahre Frühlingsweg, ganz von Veilchen und Primeln gesäumt.

 

Aber man kann auch auf die Bises steigen, über die schmale Strasse, die zu Chez Jeanbrenin an den Fontaines vorbei nach Courtelary führt, oder über steinige Pfade durch den Wald. Oben findet man den Wind, der in den alten Tannen aus grünem Samt flüstert, und man begegnet Bäumen, die mit dem Alter die Form einer Lyra angenommen haben. Im kurzen, aber bereits dichten Gras lächeln von einem Haselnussstrauch zum andern himmelblaue Frühlingsenziane zwischen den letzten Schneeflecken in die Sonne, dazu nicken weisse, verletzliche Anemonen und eine Million goldener Narzissen.

 

Die Wege der Dichter: „Die Gegend ist so mannifaltig, dass Sie wohl fünfzig verschiedene Spaziergänge machen können, die alle angenehm und fast alle zu ungestörtem Nachdenken geeignet sind“ (Goethe zu Eckermann). > Hughes Richard, auch er ein Abkömmling des Pruntruter Lehrerseminars, betrachtete sich „als letzter Dichter, der die Dörfer besingt“.

 

Francis Bourquin aus Villeret erklärt, dass die Dörfer seiner Jugend geschlossene Gemeinschaften bildeten. Der Dialekt wechselte von Ort zu Ort. Man hörte den Menschen an, woher sie kamen. Sie hatten eine Reihe von Wörtern, die im Dorf nebenan schon nicht mehr verstanden wurden. Das Phänomen ist mittlerweile in der französischen Schweiz verschwunden (mit Ausnahme des Wallis). Dafür tritt es heute, zum Entzücken der Linguisten, in den Pariser Banlieues zutage. Mit dem Nachteil, dass man sich, wie die Jungen versichern, von einer Überbauung zur nächsten kaum mehr versteht, namentlich wenn die allgemeine Sprache, im konkreten Fall das Französische, nur noch rudimentär beherrscht wird.

 

Als Dichter und Lehrer hat sich Francis Bourquin einer reinen Sprache beflissen. „Vielleicht etwas zu stur“, meint er rückblickend. „Aber Radio und Fernsehen hätten nicht aufkommen können, wenn jeder Sprecher am Mikrofon ein anderes Französisch verwendet hätte.“ Heute sind Bezeichnungen wie „Harnischpletz“ für den Scheuerlappen aus Draht oder „Steck“ für den Gehstock (canne) verschwunden, die einst an der Sprachgrenze zum Alltagswortschatz gehörten.

 

In die abgeschlossenen Dorfwelten sickerte die Kultur durch die Schulmeister ein. Sie begeisterten die Heranwachsenden durch Gedichte aus der „Anthologie Kra“:

 

Le chapeau à la main il entra du pied droit

Chez un tailleur très chic et fournisseur du roi…

(Guillaume Apollinaire)

 

Mit dem Hut in der Hand setzte er den rechten Fuss

Ins Atelier eines sehr vornehmen Schneiders und königlichen Hoflieferanten ...

(Guillaume Apollinaire)

 

C’est ainsi que vêtu d’innocence et d’amour

J’avançais en traçant mon travail chaque jour

Priant Dieu et croyant à la beauté des choses

Mais le rire cruel, les soucis qu’on m’impose

L’argent et l’opinion, la bêtise d’autrui

Ont fait de moi le dur bourgeois qui signe ici.
(Max Jacob)

 

So bekleidet mit Unschuld und Liebe

Schritt ich voran und leistete jeden Tag mein Pensum

Zu Gott betend und an die Schönheit der Dinge glaubend

Doch das grausame Lachen, die Sorgen, die man mir auferlegte

Das Geld und die Meinungen, die Dummheit der anderen

Machten mich zum harten Bourgeois, der hier unterschreibt.

(Max Jacob)

 

Die Lyrik entdeckte der 14-jährige Uhrenarbeitersohn Francis Bourquin im Estrich des elterlichen Hauses. Da fand er in einem Stapel abgelegter Familienzeitschriften neben Kochrezepten auch Gedichte. Er tippte sie sauber ab und versammelte sie in einem Ordner. Mit der Zeit kam Selbstverfasstes dazu. Es wuchs aus zu einem Band. Den zweiten Band wagte Francis Bourquin bereits mit zwanzig zu publizieren – im Eigenverlag: „Poèmes du temps bleu“, Ed. Grossnikaus [Name der Druckerei in St-Imier] 1942.

 

Zwischen 1949 und 2002, dem Todesjahr, folgten acht weitere Gedicht­bände. Doch die Lyrik war jetzt nicht mehr literarische Hauptader. Vielmehr betätigte sich Francis Bourquin als Vermittler. Im „Journal du Jura“ stellte er jede Woche auf einer ganzen Seite die Neuerscheinungen vor. Auch im „Journal de Genève“, in der Funktion als Literaturverantwortlicher. Schliesslich gründete er 1981 „Intervalles, revue culturelle du Jura bernois“, und 1982 den gleichnamigen Verlag, den er bis zum siebzigsten Altersjahr leitete.

 

Heute nun wird Francis Bourquin von den „Plans Fixes“ im elterlichen Haus besucht. Die Kamera erfasst die langgezogene Horizontlinie des Chasseral. Der 65-Jährige blickt auf ein reiches Schulmeister- und Literatenleben zurück. Er hat den Rat des regionalen Sprichworts umgesetzt:

 

Si tu veux cueillir des bolets, ne reste pas à l'auberge.
(Wenn du Steinpilze sammeln willst, bleib nicht in der Herberge.)

 

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