Gaspard Delachaux: Bildhauer. Das Unsichtbare sichtbar machen.

24. Dezember 1947 –

 

Aufgenommen am 10. Januar 2020 in Valeyres-sous-Ursins.

Gaspard Delachaux – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Gaspard Delachaux schlug aus der Art. Während die Geschwister Akademiker wurden, fühlte er sich, als vierter und jüngster, zu den Künsten hingezogen. Die Eltern widersetzten sich anfänglich dem Berufswunsch; aber nur, um zu ergründen, wie ernst es ihm damit sei. Dann schenkten sie ihm ihre volle Unterstützung. Zu recht. Wie die Begegnung mit dem 73-Jährigen Bildhauer zeigt, blieb er ein Leben lang den Künsten treu. <

 

Obwohl schon seit acht Jahren im AHV-Alter und pensioniert als Professor der Waadtländer Hochschule der Künste, denkt Gaspard Delachaux nicht ans Aufhören. Eine Schulter, erzählt er, sei zwar repariert worden. Aber er stelle bei sich keine Abnahme der Kräfte fest, und er fühle sich noch auf Jahre hinaus fit. Dabei braucht das Gewicht der Steine, die er bearbeitet, den vollen Mann. Gaspard Delachaux berichtet, wie er jeweils den Pneukran kommen lässt, um die tonnenschweren Ungetüme zu heben und im Garten auf die andere Seite zu legen. Er beschreibt, wie er grosse Teile mit der Trennscheibe wegschneidet und was für schöne Muster sich dabei auf der glatten Fläche ergeben. Es braucht Kraft und Geschicklichkeit, um die singende, sirrende Maschine zu führen. Doch der Körper des Weissbärtigen wirkt jugendlich, locker und unverbraucht. Gaspard Delachaux sagt indes, er könne sich vorstellen, in vorgerückten Jahren, wenn die Kräfte abnehmen würden, sich vermehrt dem Zeichnen zuzuwenden.

 

Der Neuenburger Bildhauer > André Ramseyer vertauschte am Ende seiner Laufbahn Hammer und Meissel mit Bleistift und Feder und schuf Gedichte anstelle von Skulpturen. Der zweite und letzte Lyrikband, den er mit 88 Jahren herausgab, trug den Titel „Le Silence habité“ (Das bewohnte Schweigen). – Beim Waadtländer Bildhauer Gaspard Delachaux werden es Zeichnungen sein. Der Strich geht ihm so leicht von der Hand, dass er seine skulpturalen Einfälle, Entwürfe und Probleme nicht mit Modellen bearbeitet, sondern auf Blättern. In Hunderten von schwarzen Heften sind die Samen eingelagert, aus denen Tausende von dreidimensionalen Gebilden hervorwachsen könnten. Denn Gaspard Delachaux ruht nicht. Unablässig ist sein Geist beschäftigt.

 

Am 20. Dezember 1823 schrieb der 78-jährige Schriftsteller Karl Viktor von Bonstetten aus Genf an seine Freundin, die Lyrikerin Friederike Brun, nach Kopenhagen:

 

Glaube mir, das Alter ist so gut wie jede Lebenszeit für den, der eine Seele hat. Wenn ich die alten Dinger betrachte [die Bejahrten um mich herum], wie sie schwarz auf schwarz, Pelion auf Ossa türmen [von absurden Dingen träumen]; wie so ganz die innere Seele in ihnen erloschen ist; wie sie Hilfe von aussen suchen, da doch alles in uns ist, so sage ich mir: Das Grab, das ihr scheut, ist in eurer leeren, nichtigen Seele!

 

Und doch wartet das Grab auf uns. 1608 schildert „Ein schönes Totenliedlein, darin der Tod und die Eitelkeit dieser schnöden und vergänglichen Welt fein artig und künstlich abgemalt und vor Augen gestellt wird“ aus anonymer Feder, was uns am Ende bevorsteht:

 

Das Fleisch wird stinken wie ein Aas /

     Kein Mensch kann bei dir bleiben:

Man wird verstopfen Mund und Nas’ /

     Dich aus der G’meind vertreiben:

          Nur flugs hinaus

          Mit dir zum Haus /

     Die Leut’ ab dir erschrecken /

          Man deckt dich zu /

          Da schlaf mit Ruh /

     Niemand wird dich aufwecken.

 

Bald nach dem Tod mit deinem Leib

     Wird man dem Grab zueilen:

Der letzte Trost von Kind und Weib

     Ist weinen und gross heulen:

          Ein’ halben Tag /

          Währt dann ihr Klag’ /

     Bis morgen werden’s lachen:

          Man wirft dich ’nein /

          Es muss so sein /

     Man tut’s kei’m anders machen. 

 

Im Grab verborgen warten dein

     Viel Kröten und viel Schlangen:

Die werden da dein Hausg’sind sein /

     Dich grüssen mit Verlangen:

          Ihr’ Gasterei [Mahlzeit]

          Wird da sein frei /

     Keins muss die Zech’ bezahlen:

          Sie schlüpfen ’nein /

          Bis zu den [Ge-]Bein’ /

     Machen’s nach ihr’m Gefallen.

 

Wann dann verlaufen ist ein Jahr /

     So bist du schon verwesen.

Wer dich sucht / find’t kein Haut noch Haar /

Fragt wer du seist gewesen.

          Dein Hirenschal’

          Ist worden kahl /

     Dein’ Äuglein sind gefressen:

          Man findt allein

          Die Totenbein’ /

     Die Welt hat dein’r vergessen.

 

Wohlhabende Ritter und Kaufleute liessen zwischen Mittelalter und Barock oft noch zu Lebzeiten unschmeichelhafte Grabplastiken ihrer künftigen Leichname anfertigen. Die Kulturwissenschaft nennt sie „Transi“ (Hinübergegange). Und das „National Geographic“ titelt: „Transi: Das Kadaver-Selfie des Spätmittelalters“.

 

Gaspard Delachaux begegnete im Alter von sieben Jahren bei einem Familienausflug dem Transi von La Sarraz:

 

Das wahrscheinlich älteste erhaltene Grabmal mit einem Transi befindet sich in der Kapelle Saint-Antoine (oder Jaquemart, um 1390) in La Sarraz (Kanton Waadt, Schweiz). Hierbei handelt es sich um das Kenotaph des Stifters, des 1363 verstorbenen François I. de La Sarra, der die Kapelle dem Heiligen Antonius weihte, als Schutzpatron gegen die Pest. Anders als die umstehenden Standbilder von betenden Damen und Rittern ist der mit gekreuzten Armen daliegende Verstorbene nackt dargestellt. Gesicht und Genitalien werden von jeweils vier Kröten bedeckt, der restliche Körper von Schlangen, Symboltieren der Sünde und Wollust.

(Wikipedia)

 

Im Grab verborgen warten dein

     Viel Kröten und viel Schlangen:

Die werden da dein Hausg’sind sein /

     Dich grüssen mit Verlangen ...

 

Nun zeigt der Bildhauer im Vorspann zum Film seine Plastiken, die im Atelier wie Orgelpfeifen nebeneinander aufgereiht sind. Figürliches, rätselhaft Unbestimmbares drängt sich dem Betrachter entgegen. Gaspard Delachaux hat nie aufgehört, die Wesen darzustellen, denen er als Kind in der Kirche von La Sarraz begegnet ist.

 

Archetypen nannte Karl Gustav Jung jene Urbilder und Urvorstellungen, die aus Urzeiten stammen und allen Menschen gemeinsam sind. Sie gehören zum kollektiven Unbewussten und drücken sich aus in Märchen, Mythen, Religionen und Kunstwerken. Für Gaspard Delachaux sind sie Lebensbegleiter. Er kann mit ihnen in Dialog treten. Sie drücken das Undefinierbare aus und schenken dem Lebenden in ihrer Zeitenthobenheit Halt und Trost.

 

„Mein liebes Kind“, schrieb der 74-jährige Karl Viktor von Bonstetten am 16. März 1820 aus Genf seiner Freundin, der 55-jährigen Lyrikerin Friederike Brun in Kopenhagen:

 

Glaube mir, man macht sich sein physisches wie sein moralisches [= seelisches] Geschick. Ich möchte meine siebziger Jahre mit meinen Jugendjahren in Bern nicht vertauschen; diese siebzig Jahre sind weniger lästig als die Berner. Wir haben Vorurteile, die aus den Jahren der Nichtzivilisation herstammen. Es ist falsch, dass der Geist altere, er rostet ein, aber er altert nicht. Ich lerne jeden Tag und gehe jeden Tag vorwärts. Wo sich aber der Geist nicht regt, da rostet er ein. Alle meine ungelehrten Bekannten erstarren in Eis lange, ach!, ehe sie sterben. Mir ist nichts schwerer, als mit alten Leuten zu leben. Ich rutsche jedes Quintennium [Jahrfünft] um eine Generation hinab in die aufkeimende Jugend, wo mich alles verzieht.

 

Mein Gott! So muss man schreiben (und leben) können!

 

Am 1. Februar 1824 meldete Bonstetten aus Genf dem Dichter Friedrich von Matthisson in Stuttgart:

 

Ich wollte doch einmal wissen, ob ein Mann von 78 von jungen Mädchen wirklich geliebt sein könnte. Ich machte einem ziemlich schönen Stubenmädchen die Cour. Ich lernte wieder Berndütsch. Das Mädchen war ganz Natur, unsere Gespräche waren mir so neu, so idyllisch, dass ich mich ganz jung fühlte. Als ich von Stuttgart bei Nacht [in Genf] anlangte, kam mir das Mädchen ohne Licht auf der Treppe entgegen, umarmte mich zum Ersticken – und sagte weinend: „Ach mein Gott, da kommt mein lieber Herr von Bonstetten wieder.“ – So dachte ich, ist es ganz unwahr, dass man in hohem Alter unfähig sei, Liebe einzuflössen. Das hat mich mit meinem Alter ganz versöhnt. Die Jahre machen die Liebe reiner und schenken selbst im höchsten Alter alles Glück, das man braucht, für die Menschen, die Herz und Seele haben. Die übrigen bedürfen keiner Liebe.

 

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