Rémy Theytaz: Bergführer.

2. Juli 1910 – 14. Januar 2000.

 

Aufgenommen am 30. März im 1987 in Ayer.

Rémy Theytaz – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Mit 75 Jahren wurde Rémy Theytaz Walliser Grossratspräsident. 125 von 126 Kantonsparlamentariern hatten für ihn gestimmt. (Eine Enthaltung.) Dabei hatte der bescheidene Mann nie einen Beruf erlernt. Als er in der Jugend nach einer Erwerbsquelle suchte, bezeichnete das Wort „Bergführer“ erst einen Einheimischen, der die Touristen zu den aussichts­reichen Punkten seiner Gegend brachte. <

 

Der Schwarz-Weiss-Film, gedreht am Montag, den 30. März 1987, ist nie restauriert worden. Darum schaukeln in der Titelsequenz die Buchstaben, und über das etwas enge 16 mm-Format hat sich Patina gelegt. An hölzerner Wand hängt ein Gekreuzigter. Daneben ist ein sorgfältig aufgerolltes Seil um einen Bergpickel geschlungen.

 

Auch der 77-Jährige auf dem Kanapee, welcher über sich Auskunft gibt, erscheint heutigen Augen fremd. Sie müssen über die unästhetischen Lücken in der unteren Zahnreihe hinwegblicken. Die obere Reihe, von einer Prothese gebildet, wirkt nicht viel anziehender. Ähnliche Inkongruenz zeigt das Gesicht. Während auf dem Schädel nur ein paar spärliche graue Haare liegen, bedeckt ein kurzgeschorener, schwarzer Backenbart die Wangen, vermutlich gefärbt. Die Gesichtshaut selbst wirkt irreal straff und faltenlos. Der Greis – so nannte man früher Menschen seines Alters – wird noch die hohe Zahl von neunzig Jahren erreichen, obwohl ihn eine verschleimte Lunge immer wieder mit Hustenanfällen heimsucht.

 

Mit dieser Ausstrahlung wird der Kurzatmige, der vor 113 Jahren geboren wurde und den Beruf eines Bergführers ausübte, zum Führer in eine unterge­gangene Welt. Und das Dokument, das die „Plans Fixes“ aufbewahrt haben, bestätigt die Beobachtung des Selberdenkers Nicolás Gómez Dávila: „Die Welt, die es wert wäre, Reisen zu unternehmen, existiert bereits nur noch in alten Reiseberichten.“

 

„Val d’Anniviers Tourismus“ bewirbt zwar die Destination mit den Worten: „Ihr Abenteuer beginnt hier“, doch in Tat und Wahrheit findet sich das echte Abenteuer nicht mehr im geographischen Raum, sondern in der Erinnerung des Dahingegangenen, der am Montag, den 30. März 1987 seinen unbekannten Nachfahren das Leben im Tal schilderte.

 

Zum Reisen selbst hat Nicolás Gómez Dávila das Entscheidende gesagt:

 

In diesem Jahrhundert der umherziehenden Menschenmengen, die jeden glanzvollen Ort entweihen, ist die einzige Huldigung, die ein respekt­voller Pilger einem verehrungswürdigen Heiligtum darbringen kann, die, es nicht zu besuchen.

 

Es genügt zu betrachten, wie sich die Reisenden benehmen:

 

Die jüngsten Generationen gehen zwischen den Trümmern der abend­ländi­schen Kultur umher wie japanische Touristen zwischen den Ruinen von Palmyra.

 

Die Ursache ist klar:

 

Es ist unmöglich, in der Welt umherzureisen und gleichzeitig intelligent zu sein.
Die Intelligenz ist eine Angelegenheit von Sitzfleisch.

 

Zur Zeit von Rémy Theytaz’ Jugend begann für die Bevölkerung des Val d'Anniviers der Jahreskreis am 1. November (Allerheiligen). Am 2. November wurde der Schulunterricht aufgenommen. Es gab zwei Klassen: eine im Weiler Ayer, eine im Weiler Mission. Am 15. Dezember wurden die beiden in Zinal zusammengelegt. Hier, in der hintersten Siedlung des Tals auf 1670 m ü. M., verbrachten die Familien den Winter, weil hier ihre Scheunen mit dem Sommerheu standen. Ausser der Viehpflege hatten sie nichts zu tun: „Die Engländer kommen im Sommer nach Zinal, um zu spazieren, wir im Winter, um uns auszuruhen.“

 

Nach Sonnenuntergang drängte die Stille die Menschen zusammen: „Wir waren alle im selben Raum, brachten etwas zum Verzehren mit, und die Alten begannen zu erzählen: von Ereignissen in der Vergangenheit und von Wiedergängern.“ So beschreibt > René-Pierre Bille die Abendsitze (veillées).

 

Ende Januar zogen Bevölkerung und Schule zurück in die Talmitte. Da wurde das Korn gedroschen. Die Menschen waren Selbstversorger. Sie lebten hauptsächlich vom Vieh. Geld gab es kaum, erklärte > Marie Métrailler in ihrem „Plans Fixes“-Porträt. Eingekauft wurden lediglich Salz, Eisen und Reis (aber nicht, um Risotto zuzubereiten, sondern das Festessen der Älpler: Milchreis).

 

Anfang März ging es nach Siders hinunter zur Rhone, immer zusam­men mit Vieh und Schule. Die Familien besorgten ihre Reben und sammelten das erste Heu ein. Im April wanderten sie wieder in die Weiler. Hier bereiteten sie die Sommerarbeiten vor. Der Frühling war eine schwierige Zeit. Die Vorräte fürs Vieh wurden knapp. Doch vom 20. Mai an war es möglich, die Kühe auf die Weide führen: „Die Freude fährt den Tieren in die Beine, und schon im Stall können sie sich nicht mehr still halten.“

 

Einen Monat später, zur Zeit der Sonnwende, kam das hohe Fest des Alpaufzugs (l’inalpe):

 

Im Anfang herrscht ein aufgeregtes Treiben im Herdenzug; ungezählte langgezogene, freudige und ungeduldige „muh, muh!“ durchschwirren die Luft. Die älteren Kühe ahnen, was diese Kumädi [Komödie] zu bedeuten habe. Sie trappe ruhig der Leitkuh nach. Die jüngeren Tiere sind aufgeregt, satze [springen] vor- und rückwärts, haschen hier am Strassenrand nach einem Büschel Gras und versetzen dort einer Kameradin mit den Hörnern einen Puff in die Seite. Sie sind kaum zu bändigen in ihrer ausgelassenen Freude. Und erst der junge Muni [Stier]! Der weiss sich nicht zu fassen in seinem Freiheitsdrang. Für ihn ist die Strasse zu wenig breit. Er bricht durch das Türli in die benachbarte Wiese ein und wüetet wi verruckt im hohen Gras herum. Dem sich nähernden Sennen entspringt er dann in grossen Ggümpe [Sprüngen]. (Emmanuel Friedli.)

 

Für die drei Sommermonate war das Vieh auf der Alp unter der Obhut der Sennen. Im Tal brachten die Einheimischen derweil das Futter für den Winter ein. Zuerst, im Juni, in Siders, dann, im Juli, in den Weilern, und schliesslich, im August, in Zinal. Juli und August waren auch die Fremdenverkehrsmonate. Da begegnete die Bevölkerung den Touristen, die in den Hotels wohnten und durch die Gegend spazierten.

 

Im September kam das Vieh zurück. Es graste zuerst auf den Weiden von Zinal, dann von Ayer. Im Oktober zog ein Teil der Bevölkerung zur Weinlese nach Siders, der andere blieb in den Weilern und besorgte das Vieh. Am 1. November begann das Jahr von neuem.

 

In seinem Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg“ hat Heinrich von Kleist diese Lebensform gespiegelt:

 

Ich will auf meine Güter gehn am Rhein,

Da will ich bauen, will ich niederreissen,

Dass mir der Schweiss herabtrieft, säen, ernten,

Und, wenn ich erntete, von neuem säen,

Und in den Kreis herum das Leben jagen,

Bis es am Abend niedersinkt und stirbt.

 

Demgegenüber erlebte Rémy Theytaz, wie der Fortschritt in die Täler drang und der zyklischen Lebensform ein Ende machte. Die Schriftsteller sahen das nicht nur positiv. > Maurice Zermatten beschrieb unter anderem in „Der Berg ohne Sterne“ (1960, französisch 1956) oder „Le cancer des solitudes“ (Der Krebs der Einsamkeiten, 1964) den Anbruch der Moderne und die durch technischen Fortschritt, Industrialisierung und Säkularisierung hervorge­rufenen Brüche und Spannungen im Wallis der 1950er Jahre.

 

> André Guex stellte fest: „Das Entwicklungsziel, alle Bergdörfer, auch die abgelegensten, mit fahrzeugtauglichen Strassen zu versehen, damit die Bauern leichter ins Tal kämen, hatte zur Folge, dass sich die Bauern in der Ebene ansiedelten und ihre Häuser am Herkunftsort den Auswärtigen verkauften.“

 

Die Moral von der Geschicht’:

 

Der moderne Mensch zerstört mehr, wenn er aufbaut, als wenn er zerstört. (Nicolás Gómez Dávila.)

 

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