Jane Friedrich: Schauspielerin. Links.

8. Juli 1941 –

 

Aufgenommen am 17. Mai 2023 in Chancy.

Jane Friedrich – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die Tätigkeit der Schauspielerin Jane Friedrich wird vom Theaterlexikon der Schweiz durch die Verben „gibt“, „spielt“, „interpretiert“, „verkörpert“ und „ist“ umschrieben. „Arbeiten“ kommt nicht vor; auch nicht „angestellt als“. Die Sprache bildet das Berufsfeld ab, und die Begegnung im Film macht dessen Vielfalt und Breite erfahrbar. <

 

Gastspiel einer ostdeutschen Truppe in Genf, Mitte der 1960-er Jahre. An der Premierenfeier sitzen die Darsteller mit ihren welschen Kollegen zusammen. Ein Schauspieler wendet sich an die junge Frau: „Wie heisst du?“ Jane Friedrich erklärt, woher sie ihren unüblichen Vornamen hat: „Ich kam 1941 zur Welt. Da ich einen deutschen Familiennamen trage, wollte mein Vater durch einen englischen Vornamen zeigen, auf welcher Seite wir stehen.“ Dem Gesprächspartner treten Tränen in die Augen: „Ich wurde ebenfalls 1941 geboren. Aber meine Eltern tauften mich Adolf.“

 

Mit dieser Anekdote ist schon ausgesprochen, was Jane Friedrichs Theater charakterisiert: Kreuzungspunkt der Weltgeschichte. Als das verstanden sich damals die Bühnen der Westschweiz. Und die junge Schauspielerin lieh ihnen ihre Stimme, ihren Körper, ihre Sensibilität. Doch ins Reich der Poesie war sie schon längst eingetreten.

 

Sie erinnert sich: „Natürlich schrieb ich in der Jugend Texte wie alle Heranwachsenden. Aber wenn ich sie jemandem zeigte, hiess es immer: ‚Das ist nicht von dir!‘ Ich habe sie nicht aufbewahrt.“ „Und auch nichts mehr geschrieben?“, fragt Patrick Ferla, der Gesprächspartner. „Nein.“ Die Dichter aber begleiteten das Mädchen durch die Schulzeit. Es trug sie bei sich in der Mappe, in Gestalt der kleinen Larousse-Bändchen. Als es in die höhere Mädchenschule kam, begann es, vom vorgeschriebenen Weg abzubiegen.

 

Anstelle der Schule suchte Jane („mein Vorname wird französisch ausgesprochen“) den Bootsverleih auf. Sie trug fünf Franken bei sich, fürs Mittagessen. Die Miete für ein Ruderboot kostete zwei Franken. Für dieses Geld begab sie sich nun auf den See. Im oberen Teil der Bucht legte sie fern von allen Menschen die Ruder ins Boot, nahm eines der blauen Büchlein zur Hand und las sich mit lauter Stimme die grossen Autoren vor.

 

Bei der Frage der Berufswahl machte sie verschiedene Praktika. Sekretariat: langweilig. Krankenpflege: interessant – aber nicht fürs Leben. Schauspiel­schule: abenteuerlich. „Versuchen wir, ob sie mich nehmen!“ Jane Friedrich kam ins erste Studienjahr. Mit wenigen Strichen umreisst die 81-Jährige den altmodischen Betrieb am Conservatoire de Genève: Er orientierte sich an den pathetischen Auftritten der Pariser Tragödinnen.

 

Die Lehrerin brauchte ein Hörrohr. Um ihr etwas zu sagen, mussten sich die Eleven über den Trichter beugen und hineinbrüllen. Doch bei den Proben legte sie den Apparat ab und verschlang die Schauspielschüler mit den Augen „wie Leckerbissen und belegte Brote“. Im zweiten Jahr sollte der Lehrer mit „Meister“ (Maître) angesprochen werden. Das war zu viel.

 

Jane Friedrich flüchtete in die Kurse des Schauspielers François Simon am Théâtre de Carouge, und unter seiner Leitung kam sie zum ersten Mal auf die Bretter. Mit 21 verkörperte sie an der Uraufführung von Walter Weidelis „Réussir à Chicago“ eine Hure. Bei Spielbeginn sollte sie sich wie jemand, der eben aufsteht, nackt an der Rampe dehnen. Doch vor den Zuschauern verliess sie der Mut, und sie wandte ihnen den Rücken zu. Gleich­wohl war die Laufbahn jetzt vorgezeichnet: Avantgarde.

 

Sechzig Jahre später beherrscht Jane Friedrich die Kunst des Vortragens immer noch. Wie die 92-jährige > Monique Mani erreicht sie ihre Hörer bereits mit dem ersten Laut. Ihre Stimme ist wohlklingend, kraftvoll und tief. Offensichtlich ist ihr das Gesangsstudium zugut gekommen, das sie von 1975 bis 1982 betrieben hat.

 

Die Aufnahme will sie mit einem Gedicht eröffnen. Der Wandspiegel zeigt ihren Lebenspartner mit einem offenen Buch. Er liest aus dem russischen Original vor. Derweil sitzt Jane Friedrich reglos am Küchentisch und hört zu. An zwei, drei Stellen nickt sie verhalten. Dann senkt sie die Augen und beginnt, selber zu sprechen.

 

„Distance“. Beim ersten Wort betont Jane Friedrich jede Silbe. Dadurch wird es auseinandergerissen: „Disss – tance“. Leichte Pause. „des verstes“ (Wersten), Atemzug, „des milliers“ (Tausende). Weite und Entfernung treten in den Blick: „On nous a déliés, dispersés.“ (Man hat uns getrennt, verstreut.) Langsam und unerbittlich gedehnt spricht Jane Friedrich die Tatsache aus, dass das Band zwischen dir und mir zerschnitten wurde.

 

Das lyrische Gebilde entstand vor hundert Jahren. Marina Iwanowna Zwetajewa richtete es an den Geliebten Boris Pasternak. Der Inhalt ist jetzt wieder aktuell. Die Schöpferin, eine der bedeutendsten russischen Dichterinnen, fiel bei Stalin in Ungnade. Ihre Werke wurden unterdrückt. Sie erhängte sich am 31. August 1941. Die genaue Lage ihres Grabes ist bis heute unbekannt.

 

In der Küche von Jane Friedrich an der Route de Bellegarde 92 in Chancy, gleich bei der Rhone am äussersten Zipfel der Schweiz an der Grenze zu Frankreich, wird am weissen, runden Tisch erlebbar, was Theater ist: Entstehung einer Welt aus der Konzentration. Vorstellungsvermögen und Willenskraft der Darstellerin führen die Hörer aus ihrem Hier und Jetzt in ein Damals und Dort, das, solange die Verzauberung dauert, gegenwärtig und lebendig wirkt, betretbar, erfahrbar.

 

„Das Theater“, stellte Novalis fest, „ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst.“ Und: „Poesie ist Darstellung des Gemüts – der inneren Welt in ihrer Gesamtheit.“ Zu diesen Gewölben hat Jane Friedrich den Schlüssel. In der Aufnahme für die „Plans Fixes“ sperrt sie sie auf.

 

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