Willy Fruttiger: genannt Forel, vom „unverbesserlichen“ Kind zum freien Menschen.

9. September 1918 – 18. April 2002.

 

Aufgenommen am 4. Februar 1997 in Chailly-sur-Lausanne.

Willy Fruttiger – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die ersten drei Lebensjahre liegen im dunkel. Es scheint, dass der Kleine vom trunk­süchtigen Vater im Wald ausgesetzt worden sei. Spaziergänger hätten ihn gefunden. Von der Mutter ist nichts überliefert. Willy Fruttiger kam in eine Institution, welche amtlich die Bezeichnung „Schwachsinni­gen­anstalt“ trug. Über seine Geistesschwäche sagte die Wissenschaft: „In sehr vielen Fällen zeigt sich das Übel als unheilbar.“ <

 

Willy Fruttiger spricht in Hauptsätzen. Sie drücken eindeutige Urteile aus: Ja – nein, schwarz – weiss. Es fehlen „ja, aber“, „einerseits – andererseits“, „ich frage mich, ob ...“. Das Ende der Äusserungen versieht Willy Fruttiger stets mit einer Partikel, „quoi“ zum Beispiel. Je nach Kontext bedeutet sie: „ Tja.“, „Nicht wahr?“, „Das ist meine Meinung.“, „Du verstehst mich doch?“, oder: „Was will man da machen? So ist es halt.“

 

Die Hauptsätze bilden die Antworten auf Fragen, mit denen Jean-Paul Favre, der Interviewer, Willy Fruttigers Persönlichkeit zur Darstellung bringen will. Damit zeigt das Gespräch jenes peinliche Gefälle zwischen dem vollsinnigen Überlegenen und dem beschränkten Unterlegenen, wie es sich in den Heimen bei Besucherkonversationen einstellt: „War das Essen gut?“ „Ja danke, ganz anständig.“ „Was hat es gegeben?“ „Geschnetzeltes.“ „Und was dazu?“ „Reis.“ „Aha. Salat auch?“ „Ja.“ „Sind eigentlich die Pflegerinnen nett?“ „Die meisten schon.“ „Und der Garten? Gehst du manchmal hin?“

 

Welche Anstrengungen der Besucher auch immer unternimmt, der Dialog kommt nicht in Gang. Er gleicht dem Versuch, mit nassem Holz Feuer zu machen. Streichholz um Streichholz wird angezündet, aber die Flamme erlischt stets wieder, und die Äste kommen nicht zum Brennen.

 

In den „Plans Fixes“ wird der 78-jährige Willy gefragt, wie alt er ist. Wann er geboren wurde. Ob er sein Stofftier (ton nounou) ins Bett nimmt. Ob er mit ihm kuschelt. Ob er lieber in der geschlossenen Abteilung unter­gebracht ist oder in der offenen. „In der geschlossenen.“ „Warum?“ „Dann ist die Sache klar.“ „Und wo wohnst du lieber: Bei den Idioten oder bei den Kranken?“ „Bei den Idioten.“

 

Frage – Antwort. Frage – Antwort. Mit ihrem wohlwollenden Paternalismus zeugt die Befragung von einer zurückliegenden Epoche. Zum Stichwort „Geisteskrankheiten“ hielten die gelehrten Mitarbeiter des „Brockhaus“ am Anfang des 19. Jahrhunderts fest:

 

Die Art des Gewerbes und der gewöhnlichen Beschäftigung erzeugt zuweilen eine deutlich wahrnehmbare Neigung zu Seelenstörungen. So beobachtet man eine solche Hinneigung häufig bei anhaltend sitzenden, beständig über einem und demselben, vielleicht nicht einmal zu enträtselnden Gegenstand grübelnden, über ihre Kräfte und mit Abbrechung des Schlafes arbeitenden Stubengelehrten; ferner bei solchen, die nicht selten heftigen Gemütsbewegungen in Folge plötzlichen Glückswechsels ausgesetzt sind, wie Kaufleute, Spekulanten, Wucherer usw.; bei Leuten, die oft aus ihrer eignen Persönlichkeit heraustreten müssen, wie Schauspieler; unter gewissen Umständen auch bei denjenigen, die irgendeine Beschäftigung ohne innern Beruf, nur notgedrungen, ohne Talent und ohne die dazu nötigen Kenntnisse treiben; bei solchen, die sich anhaltend der Sonne und dem Feuer aussetzen müssen, wie Hüttenleute, Bäcker, Köche, Winzer, Schnitter, Schieferdecker usw.

 

Menschen wie Willy Fruttiger rechnete man damals unter die

 

Personen mit schwachen Verstandeskräften, welche blödsinnig heissen. Es gibt jedoch verschiedene Grade des Blödsinns, der sich von Verstandesschwäche im Allgemeinen, die sich besonders durch mangelnde Fassungs- und Gedächtniskraft äussert, bis zu gänzlicher Abwesenheit der Geistes- und Gemütstätigkeit steigern kann, so dass solche Unglückliche nur tierische Triebe und Neigungen kennen.

 

Willy Fruttiger hatte das Glück, sich durchbringen zu können, mal in der geschlossenen, mal in der offenen Abteilung eines Heims, mal als Knecht bei Bauern (mal bösen, mal warmherzigen), und auch mal auf Baustellen als Handlanger. Wärme bekam er von seinen Freunden, den Tieren, namentlich von den kleinen Schweinchen. „Bei den Bauern war früher die Grenze zu den Tieren nicht so hart gezogen.“ Dass beim Essen die Hühner zum Tisch herbeiflogen und aus seinem Teller pickten, belustigt Willy Fruttiger. Sein Lebensstil und seine Sprache entstammen dem ländlichen Proletariat. Dessen Ausdrucksweise begegnet man in den „Plans Fixes“ ebenfalls bei den Porträts von > Jacob Sumi, dem Bergler am Col des Mosses, und > Henri Noverraz, dem späteren Schriftsteller und Maler.

 

Der Film übermittelt Willy Fruttigers Eigenart durch Bild und Ton. In seinem Gang, seinen Bewegungen und seiner Ausdrucksweise wird die Persönlichkeit fassbar. Eine stumme Sequenz zeigt den 78-Jährigen mit seinem Stofftier beim Genuss einer Eisenbahnfahrt: „Ich habe das GA. Die Rhätische Bahn habe ich noch nicht entdeckt. Die Reise dauert zu lang.“

 

Ein- und ausgeleitet wird das Porträt durch André Piguet. Er erzählt aus dem Off, wie sich seine Begegnung mit Willy ergab: Der Mann trat auf eine Gruppe von Pfadfindern zu. Die Jungen machten ihn zu ihren Maskottchen. Der Brauch, Behinderte mitzunehmen, war damals bei den Sportmannschaften verbreitet. Der Umgang geschah zwanglos. Die Ansprache war offen und direkt.

 

Einst kam die Seelenwanderung zur Sprache. Willy wurde gefragt, als was er wiedergeboren werden möchte. Er antwortete: „Als dasselbe wie jetzt. Von mir aus noch drei, viermal.“ Da realisierten die Jungen erst, dass der Behinderte glücklich war. Das hatten sie sich gar nicht vorstellen können, und die Beschränktheit der Vollsinnigen trat ans Licht. „Es gibt allemal einen Narren mehr, als jeder glaubt.“ (Lichtenberg)

 

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