21. Februar 1929 –
Aufgenommen am 3. Mai 2011 in Lausanne.
François Clément – Association Films Plans-Fixes
> Die Finger beschäftigen sich mit einem Requisit: Ein kleines, leichtes Messer mit Metallschaft. Im Alltag dient es wohl als Brieföffner. Jetzt aber benützt es François Clément, um die Nervosität abzuleiten und locker zu wirken. Denn heute wird er hinter der glatten, lackierten Holzfläche seines Schreibpults abgefilmt. Rechts steht das Behältnis mit den Stiften. Daran angeneigt eine edle Peterson-Pfeife. Links liegen zwei Bucher mit seinem Namen als Autor. Und wie es sich für einen Arzt und Schriftsteller gehört, erscheint im Hintergrund die Bibliothek. <
Indem François Clément am Requisit herumfingert, ist er der Frage enthoben: Wohin mit den Händen? Sie könnten beim Sprechen ja etwas über seine Befindlichkeit verraten. Das aber will der Arzt und Schriftsteller nicht. Beherrschung ist sein Hauptthema: Beherrschung seiner selbst, Beherrschung der Situation, Beherrschung des medizinischen Geschehens.
Als Privatdozent für Hämatologie am Lausanner Universitätsspital wurden ihm die schweren, rätselhaften Fälle zugewiesen. Einmal war es ein erkrankter Swissair-Pilot. Die Ärzte in New York verstanden nicht, was mit ihm los war. „Und dabei“, sagt François Clément, „sind sie dort doch hochkompetent. Nun gut. Er kam in meine Praxis. Ein eleganter junger Herr. Als auch ich die Ursache seiner Störung nicht herausfand, fragte er: ‚Herr Doktor, haben Sie noch nichts von der Krankheit gehört, welche seit kurzem die Homosexuellen in New York heimsucht?’ ,Nein. Aber ich mache mich kundig. Kommen Sie morgen wieder.’“
François Clément arbeitete damals gerade an den Lymphozyten. Das brachte ihn auf den Gedanken, die CD4-Helferzellen des Patienten auszählen zu lassen. Der Wert war so ungewöhnlich, dass es nahelag, die Abweichung als Marker für die neue, unbekannte Krankheit zu benutzen. Indem François Clément dieser Hypothese nachging, kam er an die Spitze der Aids-Forschung.
An der Universität pflegte er seine Vorlesungen stets mit einem Fall zu eröffnen. Da blickten die Hörer gleich auf. Ein beglückender Moment. Der Dozent sah in lauter offene Augen: „So muss es einem Tierbändiger zumute sein, der ins Gehege steigt.“ Der Lehrer, der die Unterrichtssituation beherrscht, erfährt sich als kraftvolles Individuum. Dafür nimmt er manche Frustration in Kauf. Das zeigt sich auch bei den Befragungen: Die Freude am Unterrichten hilft über das Ungenügen von Leitung und Administration hinweg.
Mit dem Hauptthema Beherrschung – Beherrschung seiner selbst, Beherrschung der Situation und Beherrschung des medizinischen Geschehens – tritt im Film François Cléments „Persona“ auf. Diesen Begriff hat C. G. Jung dem antiken Drama entnommen. Persona heisst dort die Maske, welche die Schauspieler vor sich hertragen. Durch sie wird das Individuum verborgen. Im Theater aus künstlerischen, in der Medizin aus therapeutischen Gründen.
So monologisiert jetzt der 82-Jährige in gleichmässigem, halblautem Ton und zeigt vor allem, dass er sich, seine Gedanken und die Aufnahmesituation noch im Griff hat. Die Begegnung erinnert an den Ausspruch von Ulrich Sieber, dem früheren Kommunikationsschef der Bundesräte Ogi und Leuenberger: „In unserem Alter ist Halten schon eine Leistung.“
François Clément bringt zum Ausdruck, wie stark er durch die anderen und für die anderen da ist. Zwei, dreimal unterbricht ihn Jacques Poget, der Gesprächspartner: Er solle von sich selber sprechen, nicht nur von den Vorfahren, den Familienmitgliedern, den Studienkollegen wie > Charles-Henri Favrod oder den Lehrern und Vorbildern wie > Alfredo Vannotti.
Doch das Schweigen und Verschweigen ist mit François Cléments Jugend verbunden. Sein Vater, der erfolgreiche Waadtländer Maler Charles Clément (er schuf unter anderem 15 Glasfenster für Kathedrale von Lausanne) verliess mit vierzig Frau und Tochter und brannte mit einer neunzehnjährigen Malschülerin nach Paris durch. Dort kam François zur Welt. Diese Umstände wurden ihm verschwiegen. Auch die Tatsache, dass seine Mutter Jüdin war.
Mit 65 Jahren arbeitete François Clément die Geschichte seiner jüdischen Vorfahren auf und publizierte sie im Verlag L’Age d’Homme. Dort erschienen neun Jahre später auch vermischte Notizen und Erinnerungen an die Jugend in Paris und im Waadtland.
Die Halbschwester > Hélène Fehr-Clément machte eine eigene Entwicklung durch. In dem ihr gewidmeten Porträt der „Plans Fixes“ erscheint sie – um die Begrifflichkeit der analytischen Psychologie aufzunehmen – wie der „Schatten“ des hochkontrollierten Bruders, also wie die Manifestation von dessen unterdrückten Persönlichkeitsanteilen. „Bewundernd erkenne ich ihre völlig natürliche Selbstentäusserung“, schrieb die Schriftstellerin Katharina Feitknecht – ein Kommentar, der nicht zu François Clément passt.