Jean-Pierre Moulin: Journalist, Schriftsteller.

11. Januar 1922 – 8. Dezember 2023.

 

Aufgenommen am 9. Juni 2000 in Lausanne.

Jean-Pierre Moulin – Association Films Plans-Fixes

 

> Jean-Pierre Moulin, der Ungreifbare. Gebeten, über Herkunft und Werdegang Auskunft zu geben, lässt er vieles aus. Die Erinnerungsfetzen nennt er „Blitzlichter“. Also Augenblicksaufnahmen, Fragmente. Eine kohärente, faktencheckresistente Biographie liefert er nicht. Zum Geäusserten sagt der 78-Jährige: „Das kommt mir heute so vor. Vielleicht war es damals anders.“ <

 

Als Jean-Pierre Moulin 26 Jahre alt war, trat eine blonde Frau aus der Normandie in sein Leben. Die Beziehung war gut, sagt er. „Sonst hätte sie nicht vierzig Jahre lang gehalten“. Bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“ muss sie vor zehn Jahren zu Ende gegangen sein. Scheidung? Ableben? Kinder scheinen dem Paar nicht entsprossen zu sein. Der Mann erwähnt sie jedenfalls nicht.

 

Was aber sagt das „Historische Lexikon der Schweiz“? Das Nachschlagwerk bringt in der Regel das Jahr der Eheschliessung, den Namen und die Herkunft der Braut, und dasselbe gegebenenfalls auch für die zweite und dritte Ehe. Ein Beispiel:

 

Heirat mit 1) 1942 Constance von Meyenburg, Tochter des Walther, ordentlicher Professor an der medizinischen Fakultät der Universität Zürich (Scheidung 1959), 2) 1968 Marianne Oellers (Scheidung 1979).

 

oder:

 

Heirat mit 1) Lotti Geissler, Schauspielerin, 2) Charlotte Kerr, Schauspielerin und Filmregisseurin.

 

Zu Jean-Pierre Moulins Zivilstand steht im „historischen Lexikon“ nichts. Und in Wikipedia? Auch nichts. Ihn selber kann man nicht mehr fragen. Er ist am 8. Dezember 2023 im Alter von 101 Jahren gestorben. So versinkt vieles im Orkus ...

 

Im Juni 2010 erzählte mir Roland Donzé, der Philologieprofessor und Romancier, von seiner Hochzeitsfeier. Sie war äusserst bescheiden gewesen. Zur Festgesellschaft hatten Vater, Mutter, Grossmutter, daneben Mutter und Schwester der Braut gehört. Als abgeräumt war, sagte der Vater: „Du weisst, wir sind arm. Wir können dir nichts schenken. Darum werde ich dir jetzt ein Lied singen.“ Es war ein mehrstrophiges französisches Volkslied. Der Vater hatte eine schöne Tenorstimme. „Ich habe es nie vergessen“, erzählte Donzé und sang in seinem Todesjahr sicher und ohne zu stocken die erste Strophe vor. „Kennen Sie das Lied?“, fragte er. Ich verneinte. Diese Unkenntnis hatte zur Folge, dass ich den Titel nicht in Donzés Biographie setzen konnte. Er ist, zusammen mit manchem Wesentlichen, verlorengegangen und kann nicht mehr hervorgegoogelt werden.

 

Rudimentär sind auch die Angaben zu Jean-Pierre Moulins Berufseinstieg. Der Gesprächsleiter Antoine Bosshard eröffnet das Kapitel mit den Worten: „Nach Abschluss der Studien …“, doch wird er gleich unterbrochen: „Ich habe kein Diplom gemacht! Ich hatte schon zu viel zu tun.“ In Wikipedia kommen die Universitätsjahre auch gar nicht zur Erwähnung. Das „historische Lexikon“ indessen schreibt: „Geisteswissenschaftl. Lizentiat an der Univ. Lausanne“. Doch handelt es sich da – den Worten des Porträtierten zufolge – um eine Fehlanzeige.

 

1946 wird Jean-Pierre Moulin mit 24 Jahren Pariser Korrespondent für die „Gazette de Lausanne“. Chefredaktor Albert Béguin habe ihn hingeschickt, sagt er. Warum wisse er nicht. – Wikipedia schildert es anders: Eingestiegen sei Jean-Pierre Moulin bei der französischen Tageszeitung „Paris-Presse“. Nun, ab 1946 arbeitete er jedenfalls an der Seine. Er verfolgte, wie sich das Land nach dem Krieg wieder aufrichtete und in den Strudel der Entkolonialisierung geriet: Indochinakrieg, Suezkrise, Algerienkrieg ... Darüber berichtete er anfänglich für die Zeitungen, dann für das Radio und am Ende für das Fernsehen der Westschweiz.

 

Das „Historische Lexikon der Schweiz“ hält fest:

 

Er verfasste Sachbücher über die französische Gesellschaft sowie Romane und Novellen. Mit seiner Schwester, der Sängerin und Journalistin Béatrice (1926-2006), Charles Apothéloz und Frank Jotterand brachte er, v.a. für das Theater Les Faux-Nez in Lausanne, das Chanson auf die Bühne und knüpfte damit an seine frühen Interessen an. Er schrieb auch Liedtexte für Sänger wie Serge Reggiani und Edith Piaf und publizierte 2004 seine Geschichte des franz. Chansons „Une histoire de la chanson française, des troubadours au rap“.

 

Im Gegensatz zu seinen Kollegen, dem Walliser Lokalkorrespondenten > Pascal Thurre oder dem Londoner Korrespondenten > Fernand Auberjonois (von den „Plans Fixes“ ebenfalls mit „Journalist, Schriftsteller“ betitelt), wirken Jean-Pierre Moulins Ausführungen langweilig. Ist er gehemmt? Fehlt es ihm an Grösse? An Persönlichkeit? Oder will er sich bloss nicht hervortun? „Die Politiker, die virtuos den wichtigen Mann spielen, bringen mich zum Lachen“, sagt er im Film. Nun liefert der hocherfahrene Medienmann nicht das Minimum für ein wesentliches, spannendes, farbiges Gespräch. Fände die Begegnung im Café statt – man würde sich kein zweites Mal zu ihm setzen.

 

In seinem Porträt also bleibt Jean-Pierre Moulin ungreifbar. Gebeten, über Herkunft und Werdegang Auskunft zu geben, lässt er vieles aus. Die Erinnerungsfetzen nennt er „Blitzlichter“, das heisst Fragmente, Augenblicksaufnahmen. Eine kohärente, faktencheckresistente Biographie liefert er nicht.

 

Vielleicht hat John Gross die Erklärung. Der englische Literaturkritiker spricht über die „Inkohärenzen“ der Schriftsteller:

 

Es liegt in der Natur des Menschen, inkohärent zu sein. Das gilt für alle Menschen. Das wäre auch so, wenn wir eine beliebige soziale Gruppe untersuchen würden.

 

Gleichwohl üben die Inkohärenzen von Autoren eine besondere Faszination aus. Die Kluft zwischen Realität und Ideal kann immens wirken. In ihren Werken entführen uns die Schriftsteller in eine Welt, die fesselnder ist als die, die wir gewohnt sind, kohärenter, befriedigender und vollständiger. Sie selbst, so glauben wir gerne, haben eine besondere Aura. Und dann treffen wir sie und stellen fest, dass sie oft nicht besser sind als andere Menschen. Manchmal sind sie sogar schlechter. Es geht dabei weniger darum, dass sie sich inkohärent verhalten, sondern vielmehr darum, dass sie zwei Charaktere haben – denjenigen, der die Bücher schreibt, und denjenigen, der den Rest des Tages übersteht. Und während derjenige, der den Rest des Tages übersteht, bewundernswert oder beeindruckend sein mag, kann er ebensogut eitel, eifersüchtig, gemein, streitsüchtig oder einfach nur seltsam sein. Es besteht eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass er zu viel trinkt. Er sagt vielleicht nicht immer die Wahrheit.

 

q.e.d.

 

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